Idol
Inquisition zu übergeben.
Ich und alle anderen Bewohner des Gettos erschraken zutiefst. So dumm die Eiferer waren, sie blieben unsere Brüder. Und wenn
sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt würden, könnte das leicht zu neuerlichen Judenverfolgungen führen. Die Erfahrung hat
es zur Genüge bewiesen: auf jeden Juden, der öffentlich den lodernden Flammen überantwortet wird, kommen zehn weitere, die
von Fanatikern auf dunkler Straße erdolcht werden.
Selbst unsere Eiferer waren von Entsetzen gepackt, kamen mit eingezogenem Schwanz zu mir und baten, ich möge mich beim Papst
für sie verwenden. Diese gute Gelegenheit, sie zurechtzuweisen, ließ ich mir nicht entgehen.
»Was mußtet ihr armen Dummköpfe auch solch ein großes Risiko mit so wenig Aussicht auf Erfolg eingehen? Wir haben noch zwanzig
Exemplare des Talmud in der hervorragenden venezianischen Ausgabe. Und wer von uns beherrscht das Hebräische oder Aramäische
gut genug, um das Buch lesen zu können? Vielleicht ein Dutzend Rabbiner und Doktoren! Mit eurem Antrag für eine Neuausgabe
habt ihr den Vatikan nur auf den Gedanken gebracht, wir wollten andere zu unserem Glauben bekehren – was wir nicht tun und
nie getan haben! Der einzige Grund, weswegen die Gojim uns unter sich dulden! Sonst hätte uns schon lange das gleiche Schicksal
ereilt wie die Lutheraner.«
Da hub großes Wehklagen, Weinen und Jammern an. »Gia cobbe ! Giacobbe! Du darfst uns jetzt in unserem Unglück nicht verlassen! Du bist unser Vorsteher!«
»Ein Vorsteher, den ihr einen Feigling genannt habt! Und was verlangt ihr nun von mir? Vor den Papst zu treten, mich als Sündenbock
darzubieten und alle Konsequenzen eurer Dummheit auf mich zu nehmen! Noch dazu, wo von diesem Papst bekannt ist, daß er Großinquisitor
in Venedig war und sein Leben lang dem Gericht des Heiligen Offiziums angehört hat: das spricht für seine Milde, nicht wahr!«
Nach dieser Strafpredigt verdoppelten sie ihr Flehen, in das auch die Eltern, Frauen, Kinder, Verwandten und Nachbarn mit |402| einstimmten und warum nicht gar – da man schon einmal dabei war – die Säuglinge an der Mutterbrust; all die Leute fielen plötzlich
in mein Haus ein, schrien, weinten, rissen sich das Haar aus, rauften sich den Bart, zerfetzten ihre Kleider (oder taten wenigstens
so), warfen sich mir zu Füßen, ergriffen meine Hände und versicherten mich ihrer ewigen Dankbarkeit.
Da tat ich das, wozu ich von Anfang an entschlossen war – und im Grunde ihres Herzens wußten alle, daß ich dazu entschlossen
war –, denn ich bin ihr Vorsteher und habe meine Pflichten ihnen gegenüber niemals verletzt: ich bat um eine Audienz beim
Papst.
Sie wurde mir achtundvierzig Stunden später mit der Maßgabe gewährt, daß Sixtus V. mich nicht öffentlich, sondern privat empfangen
werde und ich durch einen Seiteneingang eintreten solle, was ich mit Zittern und Zagen tat, ahnte ich doch nicht, welches
Schicksal mich in der Hochburg meiner Glaubensfeinde erwartete. Denn wer war ich schon in diesem Augenblick, verloren in dem
Labyrinth des gewaltigen Palastes, in dem mir selbst die Mauern feindlich schienen: ein furchterfüllter kleiner alter Jude
im langen gelben Kaftan, mit graumeliertem Bart, der Schädel unter meinem Käppchen feucht von Angstschweiß.
Sixtus V. empfing mich in einem einfachen kleinen Raum, in dem wir uns allein befanden, abgesehen von einem Monsignore, einem
recht gutaussehenden Mann, der offenbar stumm war, denn er verständigte sich mit dem Papst nur durch Zeichen. »Seine Heiligkeit«,
wie ihn die Gojim nennen, saß nicht auf einem Thron, sondern auf einem einfachen Sessel, der Monsignore stand zu seiner Rechten.
»Nehmt auf diesem Schemel Platz, Giacobbe!« befahl mir der Papst in barschem Ton. »Und hört bitte auf zu zittern! Ich bin
kein gefräßiges Ungeheuer, sondern ein Mensch wie Ihr! Ich friere, wenn es schneit; mir ist heiß in den Hundstagen; wenn meine
Hand mit einer Flamme in Berührung kommt, verbrenne ich mich! Ich leide an den gleichen Krankheiten wie Ihr! Und ich bin genauso
sterblich wie Ihr! Sagt mir also in kurzen Worten Euer Anliegen.«
Ich berichtete ihm von dem Antrag unserer Eiferer.
»Welchen Talmud?« fragte er lebhaft. »Den aus Jerusalem oder den aus Babylon?«
»Den aus Babylon.«
|403| »Wenn ich mich nicht irre, wurde er 1520 bereits von einem christlichen Verleger in Venedig herausgegeben?«
»Ja, aber diese Ausgabe ist vergriffen,
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