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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sein bloßes Dastehen eine Distanz, eine unaufdringliche, aber spürbare Form von Überlegenheit herstellt. Also setzte er sich, ohne im Sprechen innezuhalten, neben Liz und schlug die Beine übereinander. »Und deshalb müssen Sie Geduld haben, vor allem Vertrauen, in uns, in unsere Spezialisten. Sie denken vielleicht, wir wären dadurch, daß wir ständig mit Verbrechensfällen konfrontiert sind, unempfänglich geworden für das Schicksal des einzelnen. Nein. Wir versuchen unsere Arbeit so gut zu machen, wie wir können, aber wir wissen, daß wir nicht immer perfekt sind. Wir legen unsere ganze Erfahrung in jeden einzelnen Fall und sind doch immer wieder überrascht über das Ausmaß der Finsternis, die manche Menschen in sich tragen. Ich sitze hier bei Ihnen, als wäre ich ganz am Anfang meines Weges als Kriminalbeamter, und das entspricht zum Teil durchaus der Wahrheit: Ich weiß nichts von Ihnen, ich habe diese Wohnung vorher noch nie betreten, wir kennen uns nicht, wir begegnen uns zum erstenmal in einem Moment, der so intim und so unfaßbar schmerzhaft ist, daß kein Fremder Sie stören dürfte. Und doch ist es meine Pflicht, in Ihren Kreis einzudringen, Ihnen Fragen zu stellen und Sie mit einem Leben zu konfrontieren, das für alle Zeit ausgelöscht ist. Bevor wir offiziell beginnen, möchte ich einige Verse aus den Psalmen sprechen, und ich bitte Sie, mich nicht nach Erklärungen zu fragen. Schließen Sie bitte die Augen.«
    Verwirrt sah Liz ihn an. Er lächelte, und sie schloß die Augen. Während er den Psalm rezitierte, betrachtete er seine Hände, die er, die Innenflächen nach oben, auf dem rechten Knie übereinandergelegt hatte. »Mit lauter Stimme schreie ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade. Ich schütte vor ihm meine Klagen aus, eröffne ihm meine Not. Wenn auch mein Geist in mir verzagt, du kennst meinen Pfad. Auf dem Weg, den ich gehe, legten sie mir Schlingen. Ich blicke nach rechts und schaue aus, doch niemand ist da, der mich beachtet. Mir ist jede Zuflucht genommen, niemand fragt nach meinem Leben. Herr, ich schreie zu dir, ich sage: Meine Zuflucht bist du, mein Anteil im Land der Lebenden. Vernimm doch mein Flehen, denn ich bin arm und elend. Meinen Verfolgern entreiß mich, sie sind viel stärker als ich. Führe mich heraus aus dem Kerker, damit ich deinen Namen preise. Die Gerechten scharen sich um mich, weil du mir Gutes tust.«
    Nach einem Schweigen sagte Fischer: »Sie dürfen die Augen wieder öffnen.«
    Margarete Bliß und Freya Schubart tasteten nach ihren Händen, sie schämten sich deswegen vor dem Kommissar. Dann vergaßen sie ihre Scham.
    »Danke«, sagte Dr. Schubart. »Stellen Sie Ihre Fragen, Sie beide sind die Gerechten.«
    »Ihrer toten Tochter können nur Sie selbst gerecht werden«, sagte Fischer. Es entging ihm nicht, wie dieser Satz die weinende, die Hand ihrer Freundin mit beiden Händen umklammernde Mutter in Unruhe versetzte.
    »Wie meinen Sie das?« Ihre Stimme klang so verhuscht wie bei ihrem Anruf in der Mordkommission.
    »Erinnern Sie sich, wann Sie Nele zum letztenmal gesehen haben?«
    Niemand antwortete.
    Liz hielt ihren Block in der einen und den Kugelschreiber in der anderen Hand und hoffte, sie könnte ihre Abwesenheit verbergen; die Art, wie Fischer die Befragung begonnen hatte, beschäftigte sie immer noch derart, daß die Bruchstücke des Psalms, die in ihrem Kopf nachklangen, keinen Raum für die Aussagen der Angehörigen ließen. Sie zwang sich, Margarete Bliß auf den Mund zu starren, um ihre Worte wenigstens halbwegs zu verstehen.
    »Das ist… zwei Jahre her, nicht? Länger sogar…« Sie sah ihren Mann an, der leise keuchte und den Blick starr auf den Tisch gerichtet hatte, auf dem eine Schnapsflasche und sechs Gläser standen; in der Mitte lag eine braune Ledermappe. Dann ließ sie die Hand der Frau neben sich los. »Jetzt sind Sie enttäuscht.«
    »Und wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen, Herr Doktor?« fragte Fischer.
    »Kurz nach der Geburt meines Enkelkindes.« Schubart saß gegenüber von Gregor Bliß im Sessel, aufrecht, die Arme verschränkt, ohne eine Spur von Anteilnahme. Im Gegensatz zu Bliß trug er keine schwarze, sondern eine goldgelbe Krawatte; wenn er beim Sprechen stockte und nachdachte, nestelte er am Knoten und rückte ihn zurecht. »Das ist her, wie lange?« Er überlegte, warf seiner Exfrau einen Blick zu, aber sie reagierte nicht. »Sieben Jahre. Dieses Jahr im Mai bin ich siebzig geworden, sie schrieb

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