Idylle der Hyänen
denn?« fragte Elisabeth Badura hinter der Gardine. Sie streichelte der Katze über den Rücken und stellte die Porzellanfigur zurück aufs Fensterbrett. Auf dem Tisch mit der gestickten Decke stand ihr Glas, es war fast leer; auch die Flasche war fast leer; sie hatte noch drei Flaschen im Kühlschrank.
Vor dem Glas lag aufgeschlagen ein Heft mit einem schwarzen Einband, der silberne Füllfederhalter war in die Mulde zwischen den beiden Seiten gerollt. Sie setzte sich, schraubte den Füller auf und legte die Kappe neben das Glas. Unter ihren letzten Eintrag schrieb sie: Der Kommissar der mich besuchte winkte auf der Straße jemandem zu er hat also jemanden der auf ihn wartet.
Dann ließ sie den Stift fallen, Tinte spritzte auf die Schrift. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Glas und führte es zum Mund. Für einen Moment mußte sie, unwillig, an das kleine Mädchen mit der Kapuze denken, das einmal am Gartenzaun gestanden, zum Haus geschaut und sich nicht bewegt hatte. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, aber wenn sie sich nicht getäuscht hatte, hielt das Mädchen ein Stofftier im Arm, ein Tier mit einem Geweih, ein Hirsch vielleicht. Sie war zu müde gewesen, zu zittrig, zu allein, um die Tür aufzumachen und zu fragen, ob es auf jemanden warte. Als sie das nächste Mal die Gardine beiseite schob, war das Mädchen verschwunden gewesen, und es war nie wiedergekommen.
8 Die Tafel der Kriminalisten
N ur Walter Gabler fehlte.
Sie saßen an dem langen dunklen Tisch, der Weningstedts Büro mit dem angrenzenden Raum verband, wo Neidhard Moll und Gesa Mehling arbeiteten; sie hatten Teller mit belegten Semmeln, Kartoffel und Nudelsalat vor sich und hörten zu. Das taten sie manchmal, wenn sie aßen.
Es war ein in unregelmäßigen Abständen wiederkehrendes Ritual.
Als Polonius Fischer vor einigen Jahren die Idee vorgebracht hatte, herrschte belustigte Ratlosigkeit in der Runde. Niemand konnte sich den Ablauf vorstellen, und jemand fragte, ob Fischer womöglich seine Ordenszeit doch noch nicht überwunden habe und deshalb abseitige Klosterregeln in die Mordkommission einführen wolle. Er drängte sie nicht. Während der Ermittlungen in einem Mordfall, der sie wochenlang durch das osteuropäische Kriminellenmilieu führte und zwei Fahnder in Lebensgefahr brachte, hatte Fischer bei einem gemeinsamen Essen wie von selbst zu lesen angefangen. Zufällig war er, weil er noch ein Telefongespräch zu Ende führen mußte, an Weningstedts Schreibtisch sitzen geblieben und hatte anschließend in einem Buch geblättert, dessen Lektüre ihn so faszinierte, daß er es ins Büro mitgenommen hatte. Und dann las er laut vor und seine Kollegen, die sich nach einem befragungs und vernehmungsintensiven Vormittag wortlos auf ein Schweigen bei Tisch verständigt hatten, begannen zuzuhören, ohne auf jedes Wort zu achten, mit wachsender Neugier.
Es war, gaben sie hinterher zu, für alle eine überraschende Erfahrung gewesen, und wenn sich wieder einmal eine Möglichkeit bieten sollte, wären sie eventuell bereit, das Experiment zu wiederholen.
Die Phase des Ausprobierens hatte keine zwei Wochen gedauert. Seither setzten sich die elf Kommissarinnen und Kommissare und – wenn sie Zeit hatte – deren Assistentin Valerie an den langen Eßtisch, reichten stumm die Teller und Flaschen reihum und achteten nicht weiter auf Polonius Fischer, der entweder am Schreibtisch oder auf einem Stuhl an der Wand saß und vorlas. Bei einem dieser Treffen schneite einmal der Polizeipräsident unangemeldet herein; er traute seinen Augen und Ohren nicht und erzählte später, er habe an diesem Tag eine Erscheinung gehabt und die zwölf Apostel gesehen. So geisterte der Ausdruck »Die zwölf Apostel« für die Mannschaft des Einhundertelfer bis heute durch die Flure des Präsidiums.
Die Auswahl der Texte oblag allein dem Vorleser; meist entschied er sich für Stellen aus dem Roman, den er gerade las – zum Erstaunen seiner Kollegen schien Fischer nie die Zeit für das Entdecken aktueller oder alter Bücher zu fehlen, die er jedoch nie kaufte, sondern sich in der Stadtbibliothek auslieh –, oder er trug historische oder zeitgenössische Texte vor. Zum Klappern des Bestecks, zu den variantenreichen Mundgeräuschen, zum fernen Schnarren des Faxgeräts, zum abgebrochenen Klingeln der Telefone ertönte seine dunkle, swingende Stimme, zehn bis fünfzehn Minuten lang, bevor er selbst aß oder seine Arbeit fortsetzte, weil er erst nachts wieder Hunger
Weitere Kostenlose Bücher