Ifenfeuer: Allgäu-Krimi (German Edition)
er nicht abgestürzt, aber aus dem Gleichgewicht geraten und hätte sich böse an der Schachtwand verletzen können.
Er sah nach unten. Ja, nun konnte er es sehen, es war eine Frau, die da an der Wand hing und wie von einer unsichtbaren Macht festgehalten schien.
»Noch drei Meter!«, rief Wanner nach oben.
»Alles klar!«, war die Antwort, und das Seil lief langsam weiter abwärts. Dann war Wanner neben der Frau und rief: »Seil stopp!«
Es gab einen kleinen Ruck, Paul hielt direkt neben der Frau. Er versuchte herauszubekommen, woran sie hängen geblieben war. Sie sah furchtbar aus: blutverschmiert, unkenntliche Gesichtszüge und zurückgebogener Hals. Ihre Wanderkleidung war zerrissen und in der Körpermitte zusammengeschoben. Ein breiter Ledergürtel schien der Haupthalt zu sein. Und dann sah Wanner den Grund für das Hängenbleiben mitten in ihrem Sturz: Es war einer der rostfreien Klebeanker, die von den Höhlenforschern entlang der Schachtwand angebracht worden waren, um beim Auf- und Abstieg besseren Halt zu haben. Er hatte sich in Hose, Gürtel und Anorak verfangen und den Sturz entlang der Schachtwand aufgehalten.
Wanner lief es kalt über den Rücken. So gut es ging, legte er ein Klettergeschirr um die Tote und zurrte es fest. Der Abtransport würde schwierig werden. Ein zweites Seil hatten sie nicht dabei, eine zweite Winde auch nicht, und einen Standplatz konnte Wanner nicht finden oder schaffen. Seine Beine hingen unter dem Seil ins Leere des gähnenden schwarzen Abgrunds. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Klettergeschirr der Toten mit seinem eigenen zu verbinden. Sie mussten den Weg hinauf zusammen zurücklegen. Als er mit dem Festzurren fertig war, rief er nach oben: »Seil auf, aber gaaanz langsam!«
»Verstanden!«, kam es zurück. Es gab einen kleinen Ruck nach oben. Wanner versuchte die Frau aus dem Anker auszuhängen. Aber der hielt zäh an dem Gürtel fest.
»Halt! Stopp!«, brüllte der Hauptkommissar, und der Seilzug ließ nach.
Nach mehrmaligem Rütteln und Zerren gelang es ihm schließlich, die Tote von dem Anker zu lösen. Im gleichen Augenblick schwangen beide frei über der Tiefe. Wanner mochte nicht nach unten schauen.
Das Blut der Toten war zwar geronnen, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass er bald genauso blutverschmiert war wie die Frau. Er pendelte an die Wand zurück und schlug sich die Finger wund.
Dann rief er: »Seil auf!«, und sie wurden langsam nach oben geholt. Hilfreiche Hände zogen die beiden über die Kante und befreiten Wanner von seinem blutigen Bündel. Der Arzt beugte sich zuerst über den Hauptkommissar, der keuchend im Gras lag, und untersuchte ihn schnell. Aber er konnte außer den aufgeschürften Fingern nichts entdecken. »Bleiben Sie erst mal liegen, ich sehe nach der Toten!«
Die beiden Spurensicherer verbanden Wanners Finger und gaben ihm aus der mitgebrachten Thermosflasche zu trinken. Wanner musste husten. »Was ist denn das für ein komischer Kaffee?«, fragte er dann heiser und sah misstrauisch in den Becher.
»Dem ist ein Lebenselixier zugesetzt«, antwortete einer der beiden Männer und grinste.
»Ach so, dann frag ich lieber nicht weiter. Lebenselixier ist immer gut!«
Er gab den Becher zurück und stand langsam auf.
Wanner unterhielt sich noch kurz mit Wolfgang Peters und seiner Freundin und schrieb ihre Adresse auf, bevor er sie ins Tal entließ.
Der Arzt erhob sich und wischte sich das Blut der Toten ab. »Bei dem Zustand der Frau kann ich hier nichts weiter als ihren Tod feststellen. Todesursache: Sturz in die Tiefe, Kopf- und Bauchverletzungen, Halswirbel vermutlich gebrochen, Weiteres kann nur die Obduktion ergeben.«
»Kann man schon etwas über den Zeitpunkt des Todes sagen?«, fragte Wanner.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Hier vor Ort nichts Genaues. Vermutlich ist die Frau schon mehrere Stunden tot.«
»Habt ihr noch was gefunden?«, wandte sich der Hauptkommissar an die Spurensicherer.
»Eigentlich nicht. Wir haben die drei Gegenstände, Rucksack, Mütze und Trinkflasche, sichergestellt und nehmen sie zur Untersuchung mit. Im Rucksack waren die Sachen, die wir hierhergelegt haben: Ersatzwäsche, Kopftuch, Handschuhe, Brotzeit, Sonnenbrille, Traubenzucker, Magnesiumpräparat, Müsliriegel, ein Notizbuch, Planunterlagen über eine neue Ifenbahn, Beschreibungen, technische Details, Kostenschätzungen. Ansonsten war in der Umgebung des Höllochs nichts zu finden, was Rückschlüsse auf den Tathergang zulassen
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