Igor der Schreckliche
ich „mit der Menschenwelt“ meine? Ich will es dir im Folgenden erklären, indem ich deine, wenn ich anmerken darf, zahlreichen Fragen, soweit es mir möglich ist, beantworte
.
Zuallererst muss ich dir mitteilen, dass ich keine Fotografie besitze, die ich dir überreichen kann. Bei uns gibt es keine Fotografien (Graf Dracula sei Dank, dass Onkel Temerar ihm letztens erklärte, was ein Foto ist!), sondern enorme Gemälde, die unsere Gruften schmücken
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Sorgen habe ich! Und welche! Das kannst du mir glauben und ich wünschte, ich hätte einen Freund, der mich verstünde!
Zu deinen Fragen. Ich bin zehn Jahre alt. Ich bin ein Vampir aus gutem Hause und lebe in Fürchtlingen, einem der beliebtesten und nobelsten Viertel in Transsilvanien. Mir gefällt es nicht. Aber meine Eltern wollen hier wohnen. So ist das Leben
.
Mein vollständiger Name lautet Igor der Schreckliche. Das soll dich jetzt nicht beunruhigen. Ich bin alles andere als schrecklich. Meine Eltern haben mir, meines Ermessens, einen unzutreffenden Beinamen gegeben. Beinamen sind bei uns maßgeblich und entscheiden über die eigene Zukunft. Dazu wann anders mehr
.
Ich lerne auf der Schule von Professor Savant
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Wir haben uns schon einmal gesehen
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Hobbys habe ich keine
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Das schreibt er, weil er nicht weiß, was Hobbys sind.
Ich werde meinen Onkel das nächste Mal fragen, ob er mir welche geben kann
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In freudiger Erwartung auf deine Antwort
Igor
Igor prüft das Geschriebene. So einen schönen Brief hat er noch nie verfasst. Hoffentlich antwortet Lara bald! Hoffnung keimt in ihm auf, dass er und Lara Freunde werden.
Normalerweise rollt man Pergament und schnürt es mit einem edlen Faden zu. Da es auf diese Weise aber nicht in das Tagebuch passt und viel zu auffällig wäre, faltet er es zusammen. Er stopft es in das Buch. Hoffentlich kommt zeitnah eine Gelegenheit, zu Irmas Grab zu gehen.
KAPITEL 15
Post von Igor
Hastig hetzt Lara zum Friedhof hinauf. Mama ist eine Stunde weg. Keine Minute länger. Hausarrest hat Lara nach wie vor. Für die leidigen Ballettstunden gilt er nicht. Mama fährt sie selbstverständlich hin und bleibt bis zum Ende. Womöglich merkt Mama auf diese Weise, dass Lara komplett talentfrei ist.
Obwohl nicht viel Zeit bleibt, wahrt Lara die Etikette und grüßt Irmgards Grab wie eh und je. Flott schiebt sie den Stein beiseite. „Bitte! Bitte! Bitte!“, fleht sie. „Lass mich eine Nachricht in meinem Tagebuch finden!“
Lara zieht es vorsichtig heraus. Beim Öffnen flattert ihr ein gefaltetes Papier entgegen. Es fühlt sich eigenartig an: dick und robust. Lara faltet das Schriftstück auseinander. Vernünftigerweise sollte sie es zu Hause lesen, falls Mama verfrüht nach Hause käme. Aber die Neugierde siegt. Sie setzt sich im Schneidersitz vor das Grab und verschlingt jedes einzelne Wort.
„Wie der schreibt! So ein eingebildeter Trottel!“ Lara wirft das Pergament beiseite. Schmollend sitzt sie da. Höchstens fünf Minuten. Dann holt sie es sich zurück und fängt von vorne an. „Das kann nicht sein!“
Lara schüttelt den Kopf. „Ist das ein Scherz? Igor ist ein Vampir? Wäre schon ein kurioser Zufall, wenn ausgerechnet jetzt ein Vampir in mein Leben tritt. Bis auf Bille und Irmi weiß keiner von Igor.“
Lara beäugt den Brief: Das Papier ist ungewöhnlich anders: dicker, steifer, angenehm in der Hand. Edel. Und es stinkt grauenvoll. Mit Füller ist der Brief nicht geschrieben. Sieht eher aus wie Tusche, wie bei Harry Potter.
Alles Zufall?
Lara grübelt.
Igor ist ein Vampir! Tatsache!
Sie faltet das Papier zusammen und stopft es in ihre Hosentasche. Soll sie eine Antwort schreiben? „Nein!“ Lara kaut auf ihren Lippen. „Ich habe eine viel bessere Idee! Ich werde dich persönlich treffen, Igor, du Schrecklicher!“
Mit dieser fixen Idee und einer wuchtigen Portion an Vorfreude eilt Lara nach Hause. Ihre mamafreie Stunde ist fast um.
KAPITEL 16
Es riecht nach Mensch!
Lara erreicht Bille nicht. Auch nicht über Handy. Vermutlich hat sie es irgendwo liegen gelassen. Bille ist in solchen Sachen ein Schussel. Schade. Lara wollte ihr ihren Plan schildern und sie bitten mitzukommen.
„Okay. Ich brauche eine Taschenlampe. Ach, und meinen Rucksack.“ Dieser hängt am Haken. Sie wirft ihn auf das Bett, kriecht sogleich darunter. Dort sollte ihre Taschenlampe sein. Sie greift nach einem Gegenstand und spürt, wie etwas über ihre Hand krabbelt.
Laras Kopf knallt gegen das Bett, den Schrei unterdrückt sie,
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