Igor der Schreckliche

Leben sprachlos. Normalerweise würde sie ausflippen, schreien, schimpfen.
    „Du wirst die Prüfung wie jeder anständige Vampir ablegen. Ich dulde keine Diskussion“, sagt Vater.
    „Nein. Werde ich nicht.“
    „Mutter, was ist mit Ihnen?“ Ivan eilt zu ihr, als sie sich mit der Hand Luft zufächert. „Siehst du, was du anstellst, du nutzloses Balg! Ich habe es immer gesagt! Das wird kein gutes Ende nehmen! Glaubt Ihr mir jetzt?“
    Was will Ivan damit sagen?
    „Madame Elena, dies alles ist kein Grund zur Beunruhigung“, mischt sich Professor Savant ein. „Jeder Vampir ist anders. Igor kann nicht wie Ivan oder Victor sein. Er ist Igor. Ich verstehe natürlich die Problematik hinsichtlich der Tradition in Ihrer Familie. Aber die Zeiten ändern sich. Ob wir wollen oder nicht. Igor ist nicht der Erste, der die Blutsaugerprüfung an einem Tier absolviert. Er ist auch nicht der Letzte. Sehen Sie es von der positiven Seite: Igor hat sein Talent gefunden. Er ist tapfer und mutig. Mutig genug, für seine Entscheidungen zu kämpfen und zu ihnen zu stehen.“ Der Professor lächelt. „Sie sollten seinen Beinamen überdenken. Igor ist alles andere als schrecklich. Er ist wagemutig. Igor der Wagemutige.“
    Die Mutter springt auf. „Nein! Igor behält seinen Beinamen!“ Ohne einen Gruß verlässt die Mutter den Raum. Der Vater folgt ihr.

KAPITEL 25
Die Prüfung
    Ein paar Tage darauf findet die Blutsaugerprüfung statt. Dieses Mal schwärmen die jungen Vampire nicht in kleinen Gruppen aus, sondern Professor Savant prüft jeden einzeln.
    Die Prüfung zu bestehen, ist nicht schwer. Mit seiner jahrelangen Erfahrung als Prüfer plaudert Professor Savant gerne aus dem Nähkästchen: Ein Schüler ist durchgefallen, weil seine Zähne nicht ausreichend gefeilt waren. Er konnte nicht richtig zubeißen. Der nächste bestand nicht, weil ihm sein Opfer wegen eines Niesanfalls entwischt war. Ein dritter ging ohne Urkunde nach Hause, weil er seinen Mund zu weit aufriss und seinen Kiefer ausrenkte.
    Igor wird bestehen. Das ist die Hauptsache! Und das Thema Mensch oder Tier ist geklärt. Igor ist entspannt.
    Nach der Prüfung eilen die Vampire nach Hause. Igor weiß, was die anderen erwartet. Und er weiß, was ihn erwartet. Ihn erwartet nichts. Kein Lob. Keine Geschenke. Keine Feier.
    Trübsinnig schleicht Igor nach Hause. Als er an Victors Gruft vorbeikommt, sieht er die ersten Festgäste. Vics Eltern haben Hunderte Verwandte eingeladen. Dazu Politiker und feine Vampire aus der gehobenen Gesellschaft. Alle bringen Geschenke mit.
    Igors Neidmütze kratzt am Kopf. Er bleibt kurz stehen und beobachtet das Treiben. Er hat keine Lust, sich den Blicken der Familie auszusetzen. Ohnehin freuen sie sich nicht für ihn und mit ihm.
    Aber einer freut sich! Onkel Temerar!
    Und Lara und Bille!
    „Leider wohnen sie in der Menschenwelt“, denkt Igor geknickt.
    Es dauert ein kurzes Weilchen, bis er begreift, welches Tor ihm die bestandene Prüfung geöffnet hat. Seine Beine flitzen los, weichen Hindernissen aus. Er rempelt eine ältere Vampirdame an, die ihm wüste Beschimpfungen hinterherruft, und einen anderen Vampir, der ihn gleich festhält. „Da hat es jemand eilig!“
    Igor strahlt. „Onkel Temerar! Ich wollte …“
    „Zu Lara und Bille. Das versteh ich. Aber um diese Uhrzeit? Die schlafen schon! Außerdem möchte ich dir gratulieren! Und mit dir feiern! Ich bin unendlich stolz auf dich!“
    Igors Augen füllen sich mit Tränen. Onkel Temerar ist unendlich stolz auf ihn! Igor durchströmt diese wohlige Wärme und er fällt Onkel Temerar um den Hals. Die Neidmütze fällt vom Kopf. „Deine Worte sind mein bestes Geschenk!“, weint Igor.
    „Oh“, sagt Onkel Temerar. „Ich habe eines, das dich durchaus mehr erfreut als mein Stolz!“
    Igor schüttelt den Kopf. „Nein, das geht gar nicht. Du bist der EINZIGE Vampir, der mich mag, wie ich bin, der mich versteht. Du weißt nicht, wie glücklich du mich mit deinem Stolz machst!“
    Sie gehen in den Unheimlichen Wald. Zu ihrem Lieblingsplatz. Onkel Temerar überreicht ihm feierlich ein Paket. Eifrig reißt Igor das Papier von der Schachtel und öffnet sie.
    „Krass!“, sagt Igor.
    Onkel Temerar muss lachen. „Offensichtlich habe ich dir zu viele Begriffe aus der Menschenwelt beigebracht!“ Igor zieht einen sonnendichten Umhang aus der Schachtel. „Sonnendichter geht es nicht“, erklärt Onkel Temerar.
    Igor entdeckt noch eine übergroße Sonnenbrille sowie einen extradichten