Igor der Schreckliche
nun fest.
„Es geht schon.“
Als ihm Professor Savant die Hand an die Stirn hält, bleibt ein Teil des Puders daran haften. „Igor! Was ist das?“ Professor Savant zeigt auf seine Hand.
Igor starrt die weißen Flecken an. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagt Igor. „Es ist … ich meine … ich … habe Angst.“
Professor Savant lächelt mild. „Ein erstes Mal gibt es nur einmal, Igor. Ich verspreche dir, du wirst es nicht vergessen. Du wirst dich daran gewöhnen!“
„Das will ich nicht!“, würde Igor gerne sagen. „Ich will niemanden aussaugen!“ Igor denkt an die vielen Stunden in theoretischem Blutsaugen. Er weiß, worauf er achten muss, wenn er sich einem Menschen nähert. Er kennt alle Arten, wie man einen Menschen angelt, unter seine Gewalt bringt, verführt oder überfällt.
Professor Savant zerrt Igor zu den anderen Schülern. Gemeinsam durchschreiten sie die Nefastusgasse und die Verbotene Zone. Igor vernimmt die staunenden Ausrufe seiner Mitschüler. Für sie ist dieser Bereich von Fürchtlingen Neuland.
Sie fliegen über Laras Bauernhof hinweg in ein Örtchen. Die erste Gruppe geht auf Jagd, anschließend berichtet sie den anderen von Erfolgen und Misserfolgen. Professor Savant gibt ihnen Tipps und Ratschläge. Einer nach dem anderen beißt sich durch.
Igor ist an der Reihe – zusammen mit Vic. Als die beiden zurückkehren, flunkert Igor. Er nickt, als Professor Savant fragt, ob es geklappt habe.
„Oh“, meint Vic verdutzt. „Saßest du nicht auf dem Ast oben im Baum?“
Igor starrt ihn an. Vic hat ihn verpetzt! Was ist das für ein Freund? Igors Gesicht glänzt augenblicklich blutrot und erblasst in Sekundenschnelle zu einem zarten Puderweiß.
Professor Savant schickt die anderen Kinder zu einem nächsten Versuch. „Warum lügst du mich an, Igor?“, fragt Professor Savant. Igor zuckt mit den Schultern. „Ist deine Angst so groß?“
Igor nickt. Obwohl es mehr der Ekel ist, der ihn am Saugen hindert.
„Komm mit! Ich helfe dir!“ Professor Savant hält nach einem passenden Opfer Ausschau. Er landet vor einem Menschen. „Igor, sieh her. Dieser Mann hatte einen Unfall. Er lebt nicht mehr. Du kannst ihn aussaugen, ohne dass er sich wehrt. Er kann nichts mehr spüren.“
Igor schluckt seinen ballgroßen Kloß hinunter, senkt seinen Kopf, sein Mund nähert sich dem Hals des Toten. Igor überkommt eine Übelkeit, die er nicht mehr zurückhalten kann.
Am nächsten Morgen.
Die ganze Nacht hat Igor an den toten Menschen gedacht. Igor hat sich über seinem Gesicht übergeben. Der arme Mensch!
Der Gedanke verschwindet, als Mutter die Türe aufreißt. Sie stemmt die Hände in die Hüfte. „Sag, dass das nicht wahr ist!“
Sie weiß es! Wie kann das sein? Madame Aurelia! Diese Petze! Das muss in der Familie liegen!
„Igor! Begreifst du nicht, welche Schande du über unsere Familie bringst? Noch nie, ich betone, NOCH NIE ist Derartiges in unserer Familie vorgekommen! Du machst uns nicht nur zum Gespött von Fürchtlingen, sondern von ganz Transsilvanien! Bist du dir darüber im Klaren, was das für Vater und mich bedeutet?“
Igor schluckt und schweigt. Er weiß, dass Mutter eine Entschuldigung von ihm erwartet. Igor tut es nicht leid. Der Einzige, der ihm leidtut, ist der Mensch.
Es folgen Tiraden über Igors hochbegabte Geschwister und deren Erfolge. Den krönenden Abschluss der morgendlichen Demütigung bilden die verhassten Vergleiche mit Vic!
Igor hat es satt: die Familie, die Schule! Fürchtlingen. Transsilvanien. Das Vampirleben.
In seiner Rage überlegt er nicht, sondern läuft schnurstracks zu Irmas Grab. Er will zu Lara. Hat sie nicht in einer der letzten Nachrichten geschrieben, in der Kirchenruine gäbe es eine dunkle Höhle?
Bevor er das Passwort spricht, dreht sich Igor noch mal um. Graf Dracula sei Dank! Niemand ist ihm gefolgt! Das wäre vor allem für Lara gefährlich! Niemand ist da.
Als dunkle Regenwolken Igor im Menschenland begrüßen, ist er erleichtert. Dennoch versteckt er sich in der Kirchenruine und wartet sehnsüchtig auf Lara.
Igor wäre durchaus nicht so ausgeglichen, wüsste er, dass Ivan ihm gefolgt ist.
KAPITEL 21
Auch Menschen haben
ein Recht auf Leben!
„Hab ich dich erwischt!“ Diese harten Worte spricht eine ihm vertraute, eiskalte Stimme.
Ivans Stimme.
Igors Herz bleibt fast stehen. Das kann nicht sein. Ihm war doch niemand gefolgt! Ist das Ivans Geheimnis? Niemand bemerkt ihn und deshalb kann er ungestört mehrere Menschen
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