Ihr Kriegt Mich Nicht!
durchs Haar. Die Kerzen flackerten.
»Mein Vater hat auch getrunken«, sagte Lena. »Er war auch Alkoholiker, und um Weihnachten herum war er immer tagelang voll. Einmal Weihnachten, als ich zehn war, ist er vor lauter Suff so ausgerastet, dass er meine Mutter erschießen wollte. Er hatte eine Schrotflinte und jagte uns damit in den Keller. Mein großer Bruder hat unsere Mutter beschützt. Er stellte sich vor sie hin. Ich selbst hab mir in die Hose gemacht.«
»Hat er geschossen?«, fragte Mik. »Hat er auf deinen Bruder geschossen?«
»Nein, er ließ das Gewehr sinken und ging. Dann ist er vor dem Fernseher eingeschlafen, und wir haben das Gewehr versteckt. Danach war er für mich gestorben. Und Weihnachten war auch gestorben.«
»Aber dein Bruder, dem ist nichts passiert, oder? Der hat deine Mutter gerettet.«
»Vielleicht«, sagte Lena.
»Dein Bruder war ganz schön mutig.«
»Ja, und mein Bruder ist dein Vater.«
Zuerst begriff Mik nichts, die Gedanken erfroren, und Milliarden Schneeflocken wirbelten ihm durchs Gehirn. Lena war seine Tante, die Schwester seines Vaters. Aber …
»Das Schlimmste war«, sagte Lena, »dass meine Mutter auch zu trinken anfing. Manchmal waren sie beide betrunken. Ich fürchtete mich immer davor, was alles passieren würde. Und mein Vater schlug meine Mutter und …«
Lena verstummte eine Zeit lang und sah in die Kerzenflammen. Wachs tropfte auf den Tisch.
Sie fuhr fort: »Die Unruhe, die nagte ständig an mir.«
»Die Schlange«, sagte Mik.
»Die Schlange?« Lena sah ihn an.
»Die Schlange Einsamkeit mit ihren aufgestellten Schuppen.«
»Ja, genau«, sagte Lena, »wie eine Schlange mit aufgestellten Schuppen.«
»Aber …«, begann Mik.
Die Gedanken drehten sich immer noch in seinem Kopf.
»… wenn Papa genau das Gleiche erlebt hat, warum macht er dann …? Warum? Das versteh ich nicht.«
»Das ist der Fluch der Wiederholung«, sagte Lena. »Und diese Schlange, die du erwähnt hast, kann im Lauf der Zeit sehr durstig werden.«
»Hast du auch getrunken?«
»Ja.«
Es klopfte an die Tür. Sie sahen sich erstaunt an und blieben schweigend sitzen. Es klopfte noch einmal, dann kamen schwere, harte Schläge.
»Wenn das der Weihnachtsmann ist, seifen wir ihn ein«, sagte Lena.
Mik öffnete die Tür. Es war der Weihnachtsmann. Groß und dick, mit weißem Bart, zottigem Pelzmantel und Zipfelmütze.
»Frohe Weihnachten alle miteinander!«, sagte er hustend. »Gibt es hier irgendwelche braven Kinder?«
Der Weihnachtsmann öffnete seinen Sack. Er roch nach Hecht.
»Ich glaub nicht an den Weihnachtsmann«, sagte Mik.
Lena kam und stellte sich in der Türöffnung hinter ihn. Sie hielt die Hände auf Miks Schultern.
»Genau«, sagte sie lachend. »Wir glauben nicht an dich.«
»Ihr könnt glauben, was zum Henker ihr wollt«, sagte der Weihnachtsmann und gab ihnen den Sack. »Frohe Weihnachten!«
Und damit ging er.
»Der Weihnachtsmann hat nach Hecht gerochen«, sagte Mik.
»Mhmmm«, sagte Lena. »Und ich glaube, er hat Probleme beim Pinkeln.«
Sie leerten den Sack auf dem Boden aus und begannen die Pakete durchzuwühlen. Zwei waren von Pi für Mik. Ein selbstgenähtes Kissen mit einem aufgestickten Herz und ein Tagebuch mit niedlichen Kaninchen auf dem Einband. Er hätte es albern finden sollen, niedliche Kaninchen und Kissen, tat es aber nicht. Der Weihnachtsmann selbst schenkte ihm eine Angelmit Blinkern zum Eisangeln. Und Süßigkeiten. Lena bekam Bettwäsche und einen Schlafanzug aus Samt von einer, die Liz hieß.
»In New York gekauft«, sagte sie.
Es wurde spät. Lena trank Glühwein und schob einen Stapel Hemingway in den Kachelofen. Mik schlief auf dem Kissen, das Pi ihm geschenkt hatte, vor dem Feuer ein. Lena trug ihn hinauf ins Bett, er war nicht schwer. Sie deckte ihn zu und sagte: »Wenn du nicht mehr hier bist, wird es leer und einsam werden.«
Mik öffnete die Augen. Sie sah betrübt aus. Das wunderte Mik, denn er würde ja nirgends hinfahren. Und das sagte er auch: »Ich bleib hier. Die Papagaientante kann sagen, was sie will. Hier ist es gut. Ich will hier wohnen. Das darf ich doch?«
»Doch, von mir aus darfst du hier wohnen.«
»Dann wohn ich hier.«
Lena lächelte ihm zu und strich ihm über die Wange.
»Ja, dann wohnst du hier.«
»Versprich mir, dass ich hier wohnen darf.«
»Ich versprech’s.«
DIE EISDRACHEN
Bengt lag unter einem Deckenberg im Bett und fror. Seine Wangen waren glühend rot, aus seiner Nase rann wässriger
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