Ihr Kriegt Mich Nicht!
zwischen angeschwollenen Lippen übrig blieb. Aber auf einer Skala voneins bis zehn waren die Chancen, das zu schaffen, gleich null. Mist, dachte Mik. Wenn man mich in Ruhe ließe, würde ich es vielleicht an diesem beschissenen Ort aushalten. Wenn ich meine Arbeit tun könnte und sonst in Ruhe gelassen würde. Hunde, Hundekacke, Nachttopf, Grütze und Waldtapeten. Aber Kröte sein zu müssen …
»Ich schieße nie daneben«, sagte Niklas. »Heute Morgen hab ich aus dreißig Metern eine Bachstelze getroffen. Und das ist ein verdammt kleiner Vogel. Das klappt garantiert, Hauptsache, du ziehst deine großen Ohren ein.«
Mik stand vor einer dicken Eiche und hielt die Dose so weit vom Körper entfernt, wie es nur ging. Er versuchte, seinen Arm zum Wachsen zu bringen, streckte ihn, bis die einzelnen Gelenke knackten.
»Gut«, sagte Niklas und machte zehn lange Schritte nach hinten.
Er klappte das Gewehr auf, lud es, hob es an und zielte. Mik starrte den Gewehrlauf an und spürte, wie ihm der Schweiß aus den Poren gepumpt wurde. Seine Knie zitterten. Niklas senkte das Gewehr.
»Das ist zu nah, viel zu einfach.«
Er trat noch einmal zehn lange Schritte zurück. Hob das Gewehr und zielte.
Mik lehnte den Kopf nach hinten und sah in die Baumkrone der Eiche. Das Zittern breitete sich von den Knien in den ganzen Körper aus.
»Du musst mich anschauen, nicht den Baum.«
Mik kam es vor, als würde Niklas ihm mitten ins Gesicht zielen. Seine Kehle schnürte sich zu. In seinem Kopf rauschte es. Musste er pinkeln? Nein, das durfte er nicht. Lieber eine Kugelins Gesicht als Pisse in der Hose. Niklas senkte das Gewehr und machte noch fünf Schritte nach hinten.
»Von so weit«, schrie Niklas, »muss man ein bisschen höher zielen. Eigentlich müsstest du die Dose auf dem Kopf haben. Das wär spannend.«
Mik hatte aufgehört zu atmen. Sein Gesichtsfeld schrumpfte. Alles färbte sich erst schwach grün und dann nach und nach rot. Er sah den Gewehrlauf wie mit einem Zoom. Das Rauschen im Kopf steigerte sich zu einem Gebrüll. Seine Herzschläge gingen wie Druckwellen durch den Körper. Die Dose in seiner Hand wog eine Tonne. Er würde explodieren.
»Steh still!«, schrie Niklas.
Das Auge, dachte Mik. Er wird ins Auge treffen. Der Schuss fiel, und Mik sackte zusammen.
Die Sonne sickerte durch die Baumkrone der Eiche. Grün durchleuchtete Blätter raschelten im Wind. Mik lag mit ausgebreiteten Armen auf der Erde. Er füllte die Lungen mit Luft. Schloss das eine Auge, es funktionierte. Schloss das andere, es funktionierte auch. Aber etwas Schlimmeres war passiert. Seine Hose war nass. Niklas beugte sich mit der Dose in der Hand über ihn.
»Da, genau in die Mitte. Aber du hast dich vollgepisst.«
Und dann ging er mit seinem Gewehr.
Hallo, Tony!
Der Forscher Michael Rockefeller aus New York machte eine Forschungsreise nach Neuguinea. Er fiel ins Wasser und schwamm zehn Kilometer und rettete sich an Land, aber da wohnten Kannibalen. Seither hat niemand ihn gesehen. Ich fühle mich wie MichaelRockefeller, obwohl ich nicht schwimmen kann und die Menschen hier keine Menschenfresser sind. Gestern habe ich für mein Zimmer ein Schild gemacht, auf dem stand DER KÖNIG DER HUNDEKACKWÜRSTE. Aber Rikard hat es weggenommen. Den Geruch nach Hundescheiße kann niemand wegnehmen. Offensichtlich darf man in einer funktionierenden Familie keine solchen Schilder haben. Was hier eigentlich funktioniert, weiß ich nicht. Seit ich hier wohne, habe ich viel an Mama gedacht. Inzwischen erinnere ich mich wieder daran, wie sie aussah. Sogar ihre Stimme kommt mir in den Kopf. Ich muss daran denken, wie es war, als wir im Tivoli waren. Wie viel Spaß wir hatten. Aber ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob wir jemals im Tivoli waren. Ich kann nicht mehr unterscheiden, was ich mir ausgedacht habe und was tatsächlich passiert ist. Manchmal bilde ich mir ein, dass ich überhaupt nicht existiere, dass ich mir das bloß ausgedacht habe.
Vielleicht existiert ja gar nichts.
Ich wüsste gern, ob Michael Rockefeller sich in die Hose machte, als er die Kannibalen sah.
Grüße
Der König der Hundekackwürste
DER BLAUE ZUG
Der Geruch nach Hundescheiße berührte ihn nicht. Natürlich stank es, aber das war nicht eklig. Das hätte es sein müssen. Mik stellte sich vor, er würde auf dem Boden knien und verkleckerte Dickmilch aufwischen. Die allerdings braun war. Vielleicht gewöhnte man sich aufdiese Art an alles. Mik hielt jäh mit dem
Weitere Kostenlose Bücher