Ihr letzter Tanz
Quinn an. „Sie muss sich an die Polizei wenden. Der Stiefvater sollte angezeigt werden.“
„Er hat mir nichts angetan, noch nicht“, rief Marnie dazwischen. „Sie kapieren das nicht. Meine Mom war ziemlich lang allein. Sie war verzweifelt. Er hat ihr vorgelogen, ich hätt’ mich an ihn rangemacht. Er ist nicht so alt. Viel jünger als meine Mutter. Sie will ihn mehr als mich, und darum … na ja, darum musste ich abhauen. Ich hab die High School im Juni abgeschlossen. Ich bin gerade achtzehn geworden. Ich kann von zu Hause weg. Es stimmt. Sie können alles nachprüfen.“
„Aber … du kannst doch nicht bei fremden Leuten im Garten leben“, sagte Shannon, die ein wenig verwirrt war, aber auch mit Marnie mitfühlte. Sie hatte etwas Trotziges an sich, zugleich aber auch etwas sehr Ehrliches. Sie wirkte wie ein junger Hund, den man ausgesetzt hatte, und der nun versuchte, wie ein ausgewachsener Dobermann aufzutreten. „Gehen wir rein“, entschied Shannon. „Dann kannst du uns alles in Ruhe erzählen.“
„Nein“, widersprach Quinn ihr energisch.
Erstaunt sah Shannon ihn an.
„Wir gehen zu einer Bekannten von mir. Sie ist eine Polizistin.“
„Ich will nicht, dass Sie sie festnehmen“, protestierte Shannon.
„Ich bin kein Cop“, erklärte Quinn entnervt.
„Er nimmt mich nicht fest“, versicherte Marnie, als fühle sie sich dazu verpflichtet, ihn in Schutz zu nehmen. „Er nimmt mich mit zu einer Unterkunft. … Ähm … meine Sachen liegen noch in Ihrem Garten.“
„Oh.“ Shannon sah wieder zu Quinn.
„Wir werden Marnies Geschichte überprüfen“, sagte er entschieden. „Sam, würden Sie bitte im Garten nach einer Tasche suchen. In ihr befinden sich Marnies Sachen.“
„Okay.“ Es war offensichtlich, dass Sam sich fragte, warum er nach der Tasche suchen sollte, wenn Marnie doch gleich neben ihm stand.
„Ich werd’ schon nicht abhauen“, sagte sie gedehnt.
„Sam holt dir gerne deine Tasche“, meinte Quinn, woraufhin sich Sam tatsächlich auf den Weg machte.
„Quinn …“, murmelte Shannon, wusste aber nicht, was sie weiter sagen sollte. Ihr wurde bewusst, dass sie eine Spur Eifersucht empfunden hatte, als er mit Marnie vor ihrem Haus aufgetaucht war. Jetzt dagegen fühlte sie, wie ihr Beschützerinstinkt geweckt wurde. Sie selbst hatte Glück gehabt. Ihre Eltern wären lieber gestorben, ehe sie ihrer eigenen Tochter etwas angetan hätten. Es wären ihnen auch niemals Zweifel an den Worten ihrer Tochter gekommen. Aber Marnie …
„Wir gehen jetzt erst mal zur Polizei“, wiederholte Quinn. „Ich habe eine gute Freundin, die Opferanwalt ist. Sie ist sehr gut, und sie wird Marnie helfen, eine sichere Unterkunft zu finden.“
Plötzlich lächelte Marnie und sah Shannon an. „Ich hab’ Sie tanzen sehen!“ erklärte sie. „Deshalb bin ich auch in Ihrem Garten gewesen. Ich hab’ Sie durch die Fenster im Studio beobachtet, und dann bin ich Ihnen nach. Ich würd’ alles dafür geben, wenn ich mich so bewegen könnte.“
„Du möchtest tanzen?“
„Mehr als alles andere.“
„Die erste Stunde ist bei uns gratis“, sagte Shannon.
Marnie sah Quinn erwartungsvoll an, der darauf vernehmlich seufzte. „Heute Abend kommst du mit zu meiner Bekannten Annie. Ich werde mich schon darum kümmern, dass du deine Tanzstunde bekommst. Ich werde dir einen Schnupperkurs bezahlen. Einverstanden?“
„Echt?“
Ihr schmales Gesicht hellte sich augenblicklich auf. Sie war nicht bloß hübsch, sondern sie strahlte wie ein Kind, das gerade das beste Geburtstagsgeschenk der Welt ausgepackt hatte.
„Ja, echt“, bestätigte Quinn ein wenig schroff.
„Ich hab kein Auto“, erklärte sie leise.
„Bei den Dingen wird dir Annie weiterhelfen“, sagte er.
„Ich hab’ ja nicht mal ’nen Führerschein“, fügte sie an.
Quinn verdrehte die Augen. „Annie wird dafür sorgen, dass du überall hinkommst, wo du hin musst. Mach dir jetzt darüber keine Gedanken, wir schaffen dich auch schon irgendwie hierhin.“
Sam kam mit der Tasche zurück und reichte sie Marnie mit einem Lächeln.
„Danke.“ Marnie wandte sich Shannon zu. „Ich weiß, dass Sie nichts davon wussten, dass ich in Ihrem Garten gelebt hab. Danke trotzdem.“
„So, wir müssen los“, ermahnte Quinn sie.
„Hey, Quinn, wie wollen Sie das hinkriegen? Sie haben doch gar keinen Wagen dabei“, fragte Sam.
„Ich rufe ein Taxi.“ Er warf Shannon einen scharfen Blick zu. „Tja, dann können Sie beide ja doch noch
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