Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
sagte ihm, dass seine Mutter ihn vielleicht nie wieder gehen lassen würde, wenn er sich nicht davonmachte, während sie völlig mit Medikamenten zugedröhnt war und sich irgendwelchen Quatsch im Fernsehen ansah.
Hin und wieder sah Lettie ihn mit ungetrübten Augen an, und dann streckte sie die Arme nach ihm aus und hielt ihn fest, so heftig und verzweifelt, dass es ihn juckte, sie abzuschütteln und quer durchs Zimmer in die Freiheit zu flüchten. Doch Davey blieb stehen – die erste bewusst selbstlose Handlung in seinem jungen Leben – und ließ zu, dass sie ihn mit aller Kraft an ihre Brüste drückte, als könne sie ihn durch die Haut hindurch wieder in ihren Körper absorbieren.
Es war ja nicht so, als hätte er keine Angst. Er hatte Angst.
Er und Shane gingen nicht mehr zur Springer Farm oder in den Wald. Beides erschien ihnen jetzt wie Orte, wo sich etwas Schlimmes ereignet hatte – und immer noch ereignen könnte. Manchmal gingen sie zum Sportplatz, und er sah Shane beim Skaten zu. Das war alles. Er hörte auf, sich um Hausaufgaben und die Konsequenzen zu scheren. Manchmal ging er überhaupt nicht zur Schule, sondern saß auf einer der Schaukeln und teilte sich eine Zigarette mit Chantelle Cox, oder er schaukelte so heftig und so hoch, dass es ganz leicht schien, die Welt zurückzulassen.
Die Schwerkraft holte ihn stets wieder zurück.
Die Rattenfänger-Eltern kamen zu einem Treffen zu ihnen und begrabschten ihn wie Zombies. Sie fragten ihn, wie es ihm ginge, und machten mitfühlende Gesichter, doch er wusste, eigentlich wollten sie ihn packen und schütteln, damit er ihnen etwas, irgendetwas sagte, das ihnen vielleicht helfen könnte, ihre verschwundenen Kinder zu finden.
Das konnte er nicht. Er hatte den Entführer gesehen, hatte seine Stimme gehört, war in seinem Auto gewesen, und doch waren seine Erinnerungen so lückenhaft, dass sie nutzlos waren. Das Einzige, woran er sich mit Sicherheit erinnerte, war der Plan, den er und Shane für so clever gehalten hatten, und wie er rumgebrüllt hatte, anstatt still zu sein …
Er ging in Stevens Zimmer und fasste all die Sachen an, die ihm sonst immer verboten gewesen waren. Er nahm die Batman-Figuren vom Regal, stellte jedoch fest, dass Fantasie-Verbrechen durch die Wirklichkeit langweilig geworden waren. Er durchsuchte Stevens Schultasche und las eine Geschichte, die sein Bruder geschrieben hatte, »Ein Tag im Leben eines Baumes«. Das hörte sich beschissen an, war aber eigentlich ziemlich gut, wenn man bedachte, dass der Baum niemals irgendwo hinkam oder irgendetwas machte. Er suchte unter dem Bett nach Pornos, fand aber nur Stevens in die Wand gekratzten Namen und die zerknüllte Quittung für den Regenschirm, den er Nan zum Geburtstag geschenkt hatte.
£ 13,99.
Das machte ihn so wütend, dass er am liebsten geheult hätte.
Wenn Steven jemals zurückkam, dann würde er allen erzählen, wie Davey gelogen hatte, als er gesagt hatte, sie seien zusammen weggelaufen. Dann wäre er der Schurke anstatt der Held; der Schurke, der seinen eigenen Bruder gehauen und ihn zurückgelassen hatte.
Davey wollte seinen Bruder wiederhaben – natürlich wollte er ihn wiederhaben.
Aber nur wenn er still war und nicht rumbrüllte.
Durch die leuchtend blaue Lücke im Dach konnte Jonas einen Bussard über dem Moor kreisen sehen. Hin und wieder stieß er einen Schrei aus – ein seltsam mickriger Laut für so einen großen Vogel. Jonas wedelte eine Fliege weg. Die waren ständig da, wegen des Fleisches. Diese hier landete abermals auf seinem Gesicht, und Jonas ließ sie sitzen; er beschloss, dass er nicht länger die nötige Energie aufbrachte, solange sie nicht in seinen Mund kroch.
Die Kinder kamen von der Wiese zurück, die Hände voller Gras und Löwenzahn, und Jonas’ Magen begann sofort zu knurren. Diesmal hatte auch Steven mitgepflückt, und als Jonas sich bei ihm bedankte, sagte er: »Schon okay«, und bezog sofort seinen Posten hinten im Zwinger, das Auge gegen den Spalt in der Wand gedrückt. Seit seinem Zusammenbruch hatte er kaum ein Wort gesagt, nicht einmal zu Jess.
Charlie tippte Jonas gegen den Arm. »Hallo, Jonas. Wie geht es dir?«
»Wie geht es dir, Charlie?«
»Hast du Erdnussbutter?«
Jonas’ Magen krampfte sich schon bei dem Wort zusammen. »Tut mir leid, Charlie.«
Der Junge verzog das Gesicht. »Ich hab Hunger«, sagte er kläglich.
»Wieso isst du dein Fleisch nicht?«, fragte Jonas und zeigte auf die Knochen hinter dem
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