Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
Gefühl, dass sie vielleicht unentrinnbar in sein komprimiertes Elend hineingesaugt werden könnte, wenn sie auf ihn zuging, um ihm zu helfen. Dieses Erlebnis hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht und sie deprimiert. Danach hatte sie ihren eigenen Therapeuten aufgesucht und war ganz seiner Meinung gewesen, dass es das Beste wäre, eine mehr als professionelle Distanz zu dem hochgewachsenen jungen Polizisten mit den unergründlichen Augen zu wahren.
Also hatte sie die Therapie mit Jonas pro forma durchexerziert. Nein, nein … Das stimmte nicht. Sie beherrschte ihre Materie. Sie tat ihr Bestes. Doch sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das Kästchen »Diensttauglich« ankreuzen zu können und ihn nie wiederzusehen. Dass sie gelegentlich argwöhnte, dass er das Ganze vielleicht pro forma mit ihr durchexerzierte, war auch etwas, was sie nicht zu genau unter die Lupe nehmen wollte.
Und doch saß er jetzt hier – nach acht Monaten Therapie – und war eindeutig verstört, wegen einer Kreuzsticharbeit, die ihre Großmutter als junges Mädchen angefertigt hatte.
»Was macht Ihnen daran zu schaffen.«
Anstatt die Achseln zu zucken, rutschte Jonas auf seinem Sessel herum. Noch eine Premiere – normalerweise verharrte er so still wie ein Teich im Sommer.
»Ich weiß es nicht«, behauptete er, obgleich klar war, dass er es sehr wohl wusste.
Doch das war gut. Es war ein Eingeständnis, dass die Stickerei ihm sehr wohl zu schaffen machte, was – nach Jonas Hollys Maßstäben – ein Riesenbekenntnis war.
»Wollten Sie jemals Kinder, Jonas?« Sie dachte kaum über die Frage nach; sie stellte sie mehr, um das Gespräch im Fluss zu halten, als dass sie eine Antwort erwartete. Es war wirklich keine unübliche Frage, aber Jonas hatte Mühe, sie zu beantworten. Lange dachte sie, er würde stumm bleiben, doch endlich sagte er: »Nein.«
»Wollte Lucy welche?«, fragte sie behutsamer.
Er stand auf, und sie zuckte ein wenig zusammen.
Dann ging er zu der Stickerei hinüber, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. »Haben Sie das gemacht?«, wollte er wissen.
Sie sah zu, wie sein Blick über die Kreuzstiche wanderte, als suche er nach Antworten. Ihre Frage hatte er bereits beantwortet, indem er sie ignoriert hatte.
»Meine Großmutter. Mit dreizehn. Ich finde es wunderschön.« Eigentlich sollte sie Patienten gegenüber keine persönlichen Ansichten äußern, aber egal – hier ging es um ihre Familie.
Er starrte die Stickerei so lange an, dass es allmählich unbehaglich wurde.
»Bei mir in der Nähe ist ein Mädchen entführt worden.«
Ein langes Schweigen entstand, während Kate den jähen Themenwechsel verarbeitete.
»Das ist ja schrecklich. Kennen Sie sie?«
»Vielleicht. Ich erinnere mich nicht mehr.«
Auch »ich erinnere mich nicht mehr« hatte Kate schon oft von Jonas gehört. Doch anders als bei vielen ihrer Patienten sah es bei ihm oft so aus, als könne er sich wirklich nicht mehr an das entscheidende Detail erinnern, wenn er das sagte. Nichtsdestotrotz machte diese Behauptung sie stets misstrauisch, genauso, wie sie bei »ich kann nichts dafür« und »mit meiner Mutter hat das überhaupt nichts zu tun« automatisch die Ohren spitzte. Diesmal ging sie nicht darauf ein.
Im Geiste formulierte sie gerade ihre nächste Frage, als Jonas von sich aus weitersprach – schon wieder.
»Manche Leute tun Kindern weh«, verkündete er unumwunden.
Kate zögerte. Hier musste sie sehr aufpassen. Sie drangen auf unerforschtes Gebiet vor. »Manchmal schon.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder.
»Wie fühlen Sie sich dabei?«, erkundigte sie sich ohne viel Hoffnung auf eine Antwort. Eine weitere übliche Verzögerungsfrage. Sie war sich nicht sicher, wo das hier hinführte.
Sie sah, wie seine Kehle arbeitete, während er die Kreuzsticharbeit anstarrte, bemerkte, dass sich seine Hände in den Hosentaschen zu Fäusten ballten.
Und plötzlich, so eindeutig, als hätte sie ein Fenster geöffnet und die Brise hereingelassen, fühlte Kate Gulliver, wie eine Woge der Gefahr von der anderen Seite des Zimmers auf sie zubrandete. Er war drauf und dran, die Stickerei zu zerfetzen – sie von der Wand zu reißen und unter seinem Fuß zu zermalmen – und dann auf sie loszugehen. Das wusste sie genau. Panik durchfuhr sie, und sie zuckte in ihrem Sessel heftig zusammen. Verstohlen warf sie einen Blick zur Tür hinüber. Könnte sie sie vor ihm erreichen, wenn es sein musste? Sie
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