Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
glaubte es nicht. Es gab einen Alarmknopf im Raum, doch der befand sich unter ihrer Schreibtischplatte, und Jonas Holly stand zwischen ihr und dem Schreibtisch. Würde jemand sie hören, wenn sie schrie? Würde jemand angerannt kommen? Oder würde ihn das nur provozieren? Würde sie tot sein, bevor Hilfe eintraf? Erwürgt und leblos auf dem Teppich liegen? Die Kehle mit einer Glasscherbe aus dem Rahmen der Stickerei durchgeschnitten?
All dies zuckte binnen eines Lidschlags durch ihren Kopf; ihr war, als hätte sie einen Tritt direkt aufs Herz bekommen.
Dann riss sie sich zusammen.
Lächerlich! Sie benahm sich einfach lächerlich. Sie war eine erfahrene Psychologin, und Jonas war ihr Patient – ein Polizist, der einen furchtbaren Verlust erlitten hatte und Hilfe brauchte. Und nicht irgendein rasender Irrer, der sie wegen ein paar Kreuzstichen ermorden würde! Sie musste völlig verrückt sein, das zu denken, und sei es auch nur einen Moment lang.
Jonas hatte sich nicht gerührt.
Kate hätte fast gelacht, doch sie würgte das Auflachen ab, bevor es aus ihrem Mund herauskam, weil sie dachte, es könnte genauso übergeschnappt wirken. Es passte gar nicht zu ihr, irrational zu sein. Sie hatte nie irgendetwas aus einem Impuls heraus getan, hatte stets die Konsequenzen ihrer Handlungen bedacht. Jetzt versuchte sie zu analysieren, wo dieses Gefühl drohender Gefahr hergekommen war, wie es sie übermannt hatte – ihre physische Reaktion auf dieses jähe Aufwallen überwältigender Angst.
Sie fühlte sich besser dabei, das Ganze so zu analysieren, doch tief im Bauch spürte sie, wie das Entsetzen sich nur ganz langsam auflöste. Ein Instinkt-Aspirin. Ihr Körper beharrte darauf, dass dieses Erleben real gewesen war.
Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und zwang sich, länger als nötig zu warten, ehe sie etwas sagte – nur um sich selbst zu zeigen, dass sie es konnte.
»Ich glaube, die Zeit ist um, Jonas.«
Er schaute sich um, als hätte er vergessen, dass sie da war. »Okay, danke.«
Dann bedachte er sie mit einem schüchternen kleinen Lächeln und ging, ohne die Kreuzsticharbeit noch einmal anzusehen.
Kate ließ ihre ganze Anspannung in einem langen, ruckelnden Ausatmen heraus. Ihre Hände zitterten, und sie merkte, wie sich ihre Mundwinkel bebend abwärtsbogen wie die eines Kleinkindes mit einem aufgeschrammten Knie. Sie spürte Tränen dicht unter der Oberfläche und unternahm eine gewaltige Anstrengung, um sich zusammenzureißen.
Bescheuert. Du bist albern. Hör auf!
Sie räusperte sich und setzte sich gerade hin. Irgendetwas hatte ihre Angstreaktion ausgelöst. Höchstwahrscheinlich irgendetwas in ihr, das überhaupt nichts mit Jonas Holly zu tun hatte. Vielleicht hatte es irgendwie mit ihrer Großmutter zu tun, die eine grässliche alte Krähe gewesen war, um die Wahrheit zu sagen. Hatte in diesem düsteren alten Haus gewohnt und ständig die Vorhänge zugezogen gehabt. Das war ihr schon damals unheimlich gewesen, kein Wunder, dass es ihr jetzt unheimlich war. Es war etwas, dem sie mit ihrem eigenen Therapeuten auf den Grund gehen und nicht einem Patienten anlasten sollte.
Sie drückte ein Papiertaschentuch gegen ihre Augen. Vor dem nächsten Termin würde sie ihr Make-up überprüfen müssen.
Kate holte tief Luft und spürte, wie in ihrem Innern langsam alles zur Normalität zurückkehrte.
Jonas hatte endlich seinen Zorn gezeigt – wenn auch auf eine Faust in der Tasche beschränkt – und hatte am Ende der Sitzung den Eindruck gemacht, als sei alles in Ordnung. Hatte ruhig gewirkt. Das war doch eine Art von Akzeptanz, oder?
Die fehlenden Teile seines Trauerpuzzles.
Du hast Angst vor ihm.
Sie achtete nicht auf die Stimme in ihrem Kopf. Die Stimme war nicht logisch oder professionell. Logisch und professionell war zu wissen, wann sie für einen Patienten alles getan hatte, was sie tun konnte, und ihm zu erlauben, das Gewesene hinter sich zu lassen. Sein Leben weiterzuleben.
Kate Gulliver schlug die Krankenakte auf und kreuzte das Kästchen an, das Jonas Holly für diensttauglich befand.
10
Steven Lamb hatte recht, was seinen Bruder anging. Die düsteren Warnungen ihrer Mutter, was für eine Todesfalle die Springer Farm sei, hatten das Gelände zu einem Magneten gemacht, und Davey und sein bester Freund Shane spielten dort oben zwischen den Ruinen, sooft sie konnten. Das Wohnhaus war schwarz und schmutzig und hatte kein Dach mehr, nur ein Skelett aus verkohlten Eichenbalken, durch die das
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