Ihr stolzer Sklave
der Flannigans besucht?“, fragte Niamh. „Ich habe gehört, dass er aus fast hundert Frauen und Männern besteht. Ich schließe daraus, dass sich mehrere Stämme zusammengeschlossen haben, was ihnen eine ziemliche Macht verleiht.“
Das hatte Iseult nicht gewusst. Aber es erhöhte die Wahrscheinlichkeit, mehr über Aidan zu erfahren. „Nein. Aber ich habe es anderswo schon überall versucht. Ich musste ins Landesinnere reiten.“ Die heutige Reise war die längste, die sie je unternommen hatte.
Iseult hatte immer Aidans Gesicht vor Augen. Die ernsten blauen Augen ihres Sohnes hatten stets aufmerksam die Umgebung aufgenommen. In den seltenen Momenten, in denen er lachte, hatte sie ihn mit Küssen bedeckt. Als sie ihn das letzte Mal sah, hatte er noch nicht zu laufen begonnen. Seine winzigen Finger hatten sich an die ihren geklammert, während er sich abmühte, auf seinen nackten Füßen zu gehen.
Ich werde dich finden, schwor sie sich wieder und wieder. Irgendwie. Und wenn das bedeutete, dass sie bis ans Ende der Welt gehen musste. In diesem Fall hatte sie keine andere Wahl. Sie wünschte sich nur, Davin würde ihre Entschlossenheit teilen. Für ihn war Aidan ein Baby, das nicht mehr aufzufinden war. Für sie war das Kind ein Stück ihres Herzens, das sie verloren hatte. Bevor sie wusste, was mit ihm geschehen war, würde es nie mehr ganz sein.
Niamh legte Iseult die Hand auf die Schulter. „Und wenn du ihn nirgendwo entdeckst? Was wirst du tun?“
„Ich weiß es nicht. Noch weitere Wegstrecken auf mich nehmen, vermute ich.“ Sie trank noch einen Schluck. Über das Aufgeben wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Seite an Seite ritten sie weiter, und mit jeder Meile spürte Iseult, wie ihre Haut kälter wurde. Zweifel quälten sie: Du wirst ihn nicht finden. Er ist tot .
Als sie die Tore erreichten, begannen ihre Hände zu zittern. Eine Welle der Furcht stieg in ihr auf, während sie sich gegen weitere Enttäuschungen wappnete. Zwei wild aussehende Männer mit Speeren in den Händen standen am Eingang. Sie sahen ihnen misstrauisch entgegen.
„Wir möchten euren Häuptling sprechen“, begann Iseult. Ihrer Stimme war die Angst anzuhören. „Ich bin Iseult MacFergus, und dies hier ist meine Freundin Niamh.“
„Brian Flannigan ist unser König, nicht unser Häuptling“, korrigierte sie der kleinere der beiden. „Erwartet er euch?“
Iseult schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich muss ihm einige Fragen wegen meines Sohnes stellen.“
Der Mann zuckte die Achseln. „Ich will sehen, ob er dir Audienz gewährt.“ Während die beiden Frauen warteten, wuchs ihre Unruhe.
Es war keine kluge Entscheidung gewesen. Sie griff nach Sand, die feinen Sandkörner ließ sie durch ihre Finger rieseln, als würden sie ihr etwas darüber sagen, ob sie sich Hoffnung machen durfte. Auf keinen Fall konnte sie alle Stämme Irlands besuchen, und selbst wenn, würde sie Aidan vielleicht doch nicht finden. Nach dem heutigen Tag würde sie ihre Strategie ändern müssen. Auf diese Weise, durch solche verzweifelten Suchaktionen, würde sie ihren Sohn nie finden.
Nach endlos langen Minuten kehrte der Wächter zurück. „Kommt.“ Er winkte ihnen, und sie folgten ihm zu einem großen Gebäude am anderen Ende des Ringwalls. Es war aus Holz und zweimal so groß wie Davins Hütte. Jetzt verstand sie, was Niamh mit der Macht des Stammes gemeint hatte.
Im Innern des Hauses waren etliche Gruppen von Männern versammelt.
Iseult schritt zögernd neben ihrer Freundin her und merkte genau, wie die Männer sie beide beobachteten. Sie bekam eine Gänsehaut und wünschte, ihre Freundin nicht in solche Gefahr gebracht zu haben. Jetzt verstand sie, warum Davin nicht wollte, dass sie allein unterwegs war. Diese Männer konnten ihr Leid zufügen, und es gab nichts, was sie tun konnte.
Aber um sich jetzt von der Angst überwältigen zu lassen, war es zu spät.
Sie hob den Kopf und versuchte tapferer auszuschauen, als ihr zumute war.
Iseult wartete eine Zeit lang, bis der König ihnen befahl, vorzutreten. Sie kniete vor ihm nieder und erklärte ihm alles über Aidans Verschwinden.
„Ich habe ihn das ganze vergangene Jahr über gesucht. Ich möchte gern wissen, ob irgendjemand deines Stammes einen kleinen Jungen gesehen hat, ungefähr zwei Jahre alt, der nicht eurem Volk angehört.“ Der König überdachte ihre Geschichte. „Wieso ist dein Mann nicht mit dir gekommen?“
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