Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
hast du gut gemacht«, sagte Inga, und Tanya lächelte stolz.
Schokoladenkuchen kann manchmal ein Trost sein. Noch besser ist ein Nougat-Schoko-Kuchen. Aber die wahre Magie liegt im Miteinanderbacken. Im Sich-nah-und-füreinander-da-Sein.
16
Nachdem sie Tanya ins Bett gebracht hatte, ging Inga Jäger in den Gerichtssaal. So nannte sie einen in ihrem Kopf eingerichteten Ort, den sie aufzusuchen pflegte, wenn es galt, ganz besonders knifflige Fälle zu analysieren. Diese meditative Technik der Visualisierung hatte sie sich bereits im Studium angeeignet. Es war eine mentale Übung, die es ihr ermöglichte, sich besser auf die zusammengetragenen Fakten zu konzentrieren und sie von mehreren Seiten zugleich zu beleuchten. Und da sie wusste, dass jedes Ding nicht, wie immer behauptet, zwei, sondern mindestens drei Seiten hat, war sie selbst in diesem imaginären Gerichtssaal in Form dreier verschiedener Personifikationen anwesend. Drei Avatare, die sie in ihrem Geist von sich selbst entwickelt hatte, um beim Nachdenken verschiedene Perspektiven und Positionen einnehmen zu können.
Im Grunde genommen war der Gerichtssaal ein Computerspiel in ihrem eigenen Kopf, in dem sie drei Figuren mit verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig spielte.
Da war zum einen die Anklägerin, die in ihrer virtuellen Gedankenwelt so aussah, wie sie selbst auch in der realen Welt aussah und ebenfalls Inga hieß, als Zweites die Unschuldsvermutung namens Iny, die sie ihrer Erinnerung von sich als kleines Mädchen von etwa zehn Jahren nachempfunden hatte, und zum dritten die Richterin in Gestalt ihrer Großmutter Thea, der Ingas Ansicht nach weisesten Frau, der sie jemals begegnet war.
Die drei waren in Wirklichkeit also nichts weiter als verschiedene Elemente ihrer eigenen inneren Stimme, aber sie auch optisch voneinander zu trennen, half, eine bessere Übersicht zu gewinnen.
Dabei musste der Gerichtssaal gar nicht so aussehen, wie eine Strafkammer in der Wirklichkeit aussah; er konnte jedwede Form annehmen, die Inga Jäger beliebte: beispielsweise ein kuschliges Wohnzimmer, eine idyllische Waldlichtung in der Mittagssonne, die gemütliche Küche ihrer Großmutter in dem kleinen reedbedeckten und windschiefen Häuschen auf Nordstrand, einer eingedeichten Halbinsel vor Husum, oder auch, wenn ihr danach war, die mosaikgetäfelte Badeanlage eines prunkvollen Kalifenpalastes oder die schmucklose und von eisigen Winden umwehte Dachterrasse eines einsam gelegenen tibetischen Klosters.
Heute wählte Inga Jäger als Kulisse für den virtuellen Gerichtssaal den realen Tatort in den regenfeuchten Weinbergen über den Ortschaften Hattenheim und Erbach, die, wie sie inzwischen wusste, wie der Eichberg selbst zum Stadtgebiet von Eltville am Rhein gehörten.
Sie blendete die Fahrzeuge und Mannschaften von heute Morgen aus und auch den Vollernter, sodass nur noch Thea, Iny und sie anwesend waren… und die Leiche von Frau Dr. Sieglinde Reichard, die sie sich entsprechend der grausamen Fotos, die die Spurensicherung gemacht hatte, dort vorstellte, wo sie von ihrem Mörder liegen gelassen und später von Claus-Josef Frohmann, dem Fahrer der Lesemaschine, gefunden worden war– im Lehmmatsch zwischen den mit reifen Trauben vollgehängten Zeilen.
» Wie weit bist du mit deinen Ermittlungen, Inga?«, fragte Thea, die, wie auch in Ingas realer Erinnerung immer, ihre unverwüstliche taubenblaue Kittelweste aus abwischbarem Polyester über einem langen, grauen Wollrock und groben Lederschuhen trug und ihr schneeweißes Haar zu einem nicht allzu strengen Dutt zusammengebunden hatte.
» Wir haben den Ehemann des Opfers, Heiko Reichard, in Untersuchungshaft«, sagte Inga.
» Ihr Name war Sieglinde«, sagte Iny und blickte voller Trauer auf die furchtbar entstellte Leiche vor ihren kleinen, in pinkfarbenen Ballerinas steckenden Füßen herab. Iny trug heute, dem Anlass entsprechend, ein schwarzes Kleidchen mit weißem Rüschenkragen und einen Haarreif mit schwarzem Seidenschleifchen. In ihren schlanken Armen hielt sie Morpheo, einen uralten, völlig abgewetzten Teddy, dessen linkes Knopfauge nur noch an einem Faden auf seine Wange herabhing.
» Natürlich«, sagte Inga und formulierte um. » Wir haben Sieglindes Ehemann festgenommen.«
» Warum?«, fragte Thea. Sie setzte sich an einen Tisch, der eben noch nicht da gewesen war, holte ihre schmale Brille aus der Kittelweste und begann damit Krabben zu pulen. Oma Thea hatte, soweit Inga sich erinnern konnte, immer
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