Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Brustkorb zu sprengen.
Sie setzte sich vorsichtig ans Fußende des Bettes und sagte sanft: » Komm her, Kleines.«
Tanya schniefte laut hörbar und kletterte dann auf den Schoß ihrer Mutter, ohne sie anzusehen. Sie drückte ihr Gesichtchen gegen ihre Brust, und Inga legte die Arme um sie. Sie wartete, bis Tanya drei, vier Male tief ein- und ausgeatmet hatte, ehe sie leise fragte: » Hat er dich geärgert?«
Noch ein tiefes Seufzen. » Mich nicht«, sagte sie dann trotzig. » Aber den Sebastian.«
Sebastian war ein Junge aus ihrer neuen Klasse, mit dem, wie Inga wusste, Tanya schon am ersten Tag Freundschaft geschlossen hatte. Er war mit einer stark verformten Hüfte zur Welt gekommen und konnte trotz zahlreicher Operationen nur mithilfe von Krücken überhaupt gehen. Die meiste Zeit aber saß er im Rollstuhl, weil das Benutzen der Krücken noch zu viel Kraft erforderte für seine jungen Arme. Sebastian konnte traumhaft schön zeichnen, und es verging keine Woche, in der Tanya nicht ein Bild nach Hause brachte, das er für sie gemalt hatte.
» Was hat er denn gesagt?« Sie streichelte Tanya den Kopf.
» Er hat Sebastian Behindi genannt.« In ihrer Stimme spiegelte sich die Wut von heute Mittag wider.
» Warum hast du ihm dann nicht einfach gesagt, dass du das für eine dumme Bemerkung hältst, und es der Lehrerin gemeldet, statt ihn zu hauen?«
Tanya schniefte noch einmal. » Ich wollte… aber… ich konnte nicht reden, so wütend war ich… und dann… dann ist es einfach passiert. Und… ich… ich konnte nicht mehr aufhören.«
Da brach es aus ihr heraus, als wäre ein innerer Damm geborsten. Sie bebte am ganzen kleinen Leib und heulte drauflos, klammerte sich an ihre Mutter wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring und schluchzte, nach Atem ringend: » I-ich… ich wollte… das nicht. Papa hat doch immer gesagt…«
Doch die Erwähnung ihres toten Vaters machte alles nur noch viel schlimmer, denn Inga war natürlich längst klar, dass es das war, was Tanya zum Überschnappen gebracht hatte. Dass ihr nicht zu bremsender Wutanfall in Wirklichkeit gar nicht dem Klassen-Bully gegolten hatte, sondern nur ein Ventil und zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Sie hatte den Menschen verloren, den sie auf dieser Welt am meisten geliebt hatte, und als jetzt einem anderen Menschen, den sie mochte, wehgetan worden war, hatte sie den Übeltäter bestraft, als wäre er auch schuld an der Ermordung ihres Vaters.
Inga legte ihre Arme noch ein wenig fester um Tanyas Schultern und hielt sie.
Es gibt Probleme im Leben, die kannst du nicht lösen. Du kannst deinem Kind den Vater nicht zurückbringen, wenn er tot ist. Du kannst ihm auch nicht helfen, zu verstehen, wenn verstehen alles nur schlimmer machen würde, ganz besonders, weil sein Tod so schrecklich sinnlos war. Außerdem wollte Inga nicht zulassen, dass ihre Tochter den gleichen Hass entwickelte, der in ihr brodelte und ihr das Herz und die Seele zerfraß. Der sich an ihrer Verzweiflung nährte und wuchs und dabei nichts produzierte als lediglich weiteren Hass, dem sie Tag für Tag erneut die Stirn bieten musste, damit er sie nicht völlig verzehrte. Manchmal wünschte sie sich insgeheim, sie hätte nie aufgehört, an den Himmel zu glauben oder an irgendeine Art von Paradies. Dann könnte sie Tanya damit trösten, dass ihr Vater für das Opfer, das er gebracht hatte, jetzt an einem besseren Ort war. Einem Ort, an dem es ihm gut ging. Wo er belohnt wurde für seinen Mut und seinen Kampf für das, was richtig war. Wo er gesund und lebendig auf sie wartete, bis sie sich dort eines Tages alle wiedersehen und erneut eine kleine, glückliche Familie sein konnten.
Manche Wunden heilt eben nur die Zeit, und bis dahin ist Ablenkung die beste Arznei… und ein Zuhause, in dem man sich geborgen fühlt und sicher. Und die einzige Art, ein Zuhause zu finden, ist, sich eines zu machen.
» Ich glaube, es wird Zeit, dass wir unseren Backofen einweihen, findest du nicht?«, sagte sie daher jetzt.
Tanya klammerte ihre kleinen Arme noch fester um Ingas Nacken und seufzte ein weiteres Mal abgrundtief. Sie brauchte noch einen Moment.
Inga küsste ihren Scheitel und kraulte ihr den Nacken. » Haben wir eigentlich gemahlene Haselnusskerne?« Sie wusste natürlich, dass welche da waren. Sie hatte sie extra für einen Moment wie diesen gekauft.
Tanya richtete sich auf, und ihre feuchten Augen waren mit einem Mal wieder groß und strahlend.
» Nougat-Schoko-Kuchen?«,
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