Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
aufsetzen, und ich werde es Ihnen sagen.«
48
Zwanzig Minuten später betrat Inga Jägers Sekretärin Rike Wiedemann das Gebäude des LKA und brachte die frisch verfasste Geheimhaltungsvereinbarung.
Inga Jäger überflog das Schreiben, unterschrieb es und ging dann mit Gebert zurück in das Verhörzimmer, in dem Dr. Schneider noch immer unter Aufsicht eines Beamten in Uniform am Tisch saß. Er wirkte jetzt plötzlich um zehn Jahre gealtert– in seinem Fall bedeutete das, dass er auf einmal so alt aussah, wie er auch tatsächlich war: neunundsiebzig.
Inga Jäger setzte sich ihm schweigend gegenüber und schob das Dokument langsam über den Tisch.
Er las es sorgfältig durch und nickte anschließend müde. Gleichzeitig glaubte Inga Jäger aber auch bei genauerem Hinsehen, so etwas wie Erleichterung in seinem Blick zu entdecken, ganz so als würde er es begrüßen, sein Geheimnis, welches auch immer das sein mochte, endlich teilen zu können.
» Ihr Kollege, der Herr Kommissar, muss es allerdings ebenfalls unterschreiben, und der uniformierte Beamte verlässt bitte den Raum«, sagte er leise.
Gebert nickte dem Beamten zu und zog einen Kugelschreiber aus dem Sakko, während der uniformierte Polizist hinausging. Er unterschrieb die Vereinbarung und gab sie Dr. Schneider zurück, der sie mit seinen sehnigen Fingern akribisch akkurat faltete und in die Brusttasche seines Anzuges schob.
Schneider lehnte sich in seinem Stuhl zurück wie ein Mann, der eine Geschichte zu erzählen hatte.
» Rache«, sagte er schließlich in die gespannte Stille hinein. » Es geht bei den grausamen Morden an meiner Familie einzig und allein um Rache.«
Rache.
Inga Jäger notierte das Wort oben auf der ersten Seite ihres Notizblocks.
» Was machen Sie da?«, fragte Dr. Schneider mit Blick darauf argwöhnisch.
» Ich mache mir Notizen«, antwortete sie.
Er schüttelte den Kopf. » Keine Notizen«, sagte er. » Was ich Ihnen jetzt erzähle, bleibt absolut unter uns.« Er klopfte zur Betonung seiner Worte in Höhe der Brusttasche auf das Revers seines Jacketts.
» Einverstanden«, willigte sie zögernd ein und legte den Stift zur Seite.
Dennoch war sein Blick weiterhin misstrauisch. Er sah erst sie an und sich dann in dem Verhörzimmer um.
» Sie schneiden das Gespräch auch nicht mit?«, fragte er anschließend skeptisch.
» Nein, tun wir nicht. Das ist mir als Staatsanwältin durch Paragraph 201 St GB unter Androhung einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren untersagt«, erklärte sie.
» Gut«, sagte er und lehnte sich wieder zurück. » Was wissen Sie über den Eichberg?«
» Die Weinlage?«
» Die Klinik.«
» Reden Sie.« Sie wollte Antworten, keine Fragen.
» Die Psychiatrie Eichberg gehörte in ihren Anfängen zum benachbarten Kloster Eberbach und wurde bereits 1815 als Irrenanstalt Eberbach vom Herzogtum Nassau gegründet«, begann Dr. Schneider.
» 1815«, sagte Inga Jäger. » Also vor fast zweihundert Jahren. Geht Ihre Geschichte wirklich so weit zurück?«
» Gewissermaßen ja«, antwortete er. » Es geht um das Gesamtbild.«
» Also gut«, sagte sie. » Erzählen Sie weiter.«
» 1815«, wiederholte er. » Das war lange vor Entwicklung der modernen Psychoanalyse. Noch achtzig Jahre, ehe Sigmund Freud das Wort an sich überhaupt das erste Mal benutzte. Damals betrachtete man psychisch Kranke zum Teil noch als moralisch verkommene Subjekte oder gar als Ausgeburten des biblischen Teufels. Es war eine dunkle Zeit, eine grausame; aber, wie sich später herausstellen sollte, sollte noch eine grausamere folgen. Eine sehr viel grausamere– und die wurde paradoxerweise ausgerechnet vom Zeitalter des Humanismus und der Aufklärung eingeleitet.«
» Sie wollen sagen, die Aufklärung war etwas Schlechtes?«, hakte Gebert dazwischen.
» Die Dinge haben nie nur eine gute oder eine schlechte Seite, Herr Kommissar«, sagte Schneider, » selbst die besten nicht.«
» Ich bin ganz Ohr«, sagte Gebert.
Schneider fuhr fort: » Aufgeklärte Mediziner begannen aufgrund ihrer Beobachtungen und Untersuchungen zu vermuten, dass zahlreiche psychische Erkrankungen vielmehr biologische als moralische oder religiöse Ursachen haben… und in den 1850er und 60er Jahren begründete der Augustinermönch Gregor Mendel die Vererbungslehre, die Wurzel dessen, was wir heute Genetik nennen, die sich mit der Weitergabe von biologischen Merkmalen an die nächste Generation beschäftigt.«
» Auch darin kann ich noch nichts Schlechtes
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