Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Wir, seine Familie, müssen seitdem immer und immer wieder dafür bezahlen. Irgendwer, wahrscheinlich ein Verwandter eines der auf dem Eichberg Ermordeten, tötet die Schneider-Frauen seit nunmehr fünfundsechzig Jahren– alle dreizehn Jahre eine.«
» Und immer am gleichen Datum«, ergänzte Gebert.
» Warum haben Sie die Polizei oder die Staatsanwaltschaft nie auf die Zusammenhänge aufmerksam gemacht?«, fragte Inga Jäger.
» Das ist aus heutiger Sicht, vor allem in Anbetracht der grauenhaften Entwicklung, schwer zu erklären«, gestand er ein.
» Versuchen Sie es.«
Er seufzte schwer. » Es geschah einerseits aus Scham für die unsäglichen Gräueltaten unseres Vaters, andererseits aber auch aus Hilflosigkeit. Als meine Schwester Eva so kurz nach seiner Verhaftung und der Öffnung der Klinik umgebracht wurde, hielten wir das natürlich zunächst für einen einmaligen Racheakt, und die nur spärlichen Ermittlungen der von der Masse an Verbrechen, die nach Kriegsende begangen wurden, völlig überforderten und unterbesetzten Polizei brachten nicht die geringste Spur.«
» Und später?«
» Als dann, dreizehn Jahre später, Sophia, meine andere Schwester, auf die gleiche Weise umgebracht wurde wie Eva, waren mein Bruder Gernot und ich sicher, dass wir selbst als die letzten beiden Kinder als Nächste dran wären. Wir betrachteten es als unser Schicksal… als unser unheiliges Erbe. Aber es geschah nichts… für eine lange Zeit.«
» Erst 1971 wieder«, sagte Inga Jäger.
» Gernots Tochter Anna«, sagte Schneider.
» Jetzt erst erkannten Sie ein Muster«, vermutete Inga Jäger.
» Ja«, sagte Dr. Schneider. » Aber wir haben nicht damit gerechnet, dass es sich noch weiter fortsetzt, sonst hätten wir doch wenigstens versucht, unsere Liebsten zu schützen. Wir waren überzeugt davon, dass der Mörder inzwischen tot sein müsste.«
» Selbst dann kann ich nicht verstehen, dass Sie all die Jahre zugelassen haben, dass Unschuldige für die Morde ins Gefängnis gehen. Es wäre so einfach gewesen, der Staatsanwaltschaft einen Hinweis zu geben, dass all die Morde zusammenhängen.«
» Und nur um die Untaten Ihres Vaters, diese grausamen Verbrechen an der Menschlichkeit, in Vergessenheit geraten zu lassen, haben Sie die Chance vertan, den Mörder zu überführen«, fügte Gebert wütend hinzu. » Verdammt, Mann! Ihre Tochter könnte noch am Leben sein!«
Schneider schaute ihn hoffnungslos an. » Wir haben nur bekommen, was wir verdienen.«
Inga Jäger schüttelte den Kopf. » Ihr Vater hat das verdient«, sagte sie. » Aber nicht seine Kinder und Enkel.«
49
Obwohl sie sich bemühte, mit ihrer gewohnten Übung über die Atmung den Herzschlag zu regulieren, um den Puls zu beruhigen, zitterten Inga Jägers Hände, als sie sich und Gebert von der Maschine in der Kantine des LKA einen Kaffee einschenkte.
Insgesamt wurden in Deutschland mehr als einhunderttausend Menschen Opfer der Aktion T4 ; manche sprechen sogar von über dreihunderttausend. Davon allein auf dem Eichberg über dreitausendsechshundert!
Doktor Schneiders Worte hallten in ihr nach, ganz wie es seinerzeit die Totenglocken bei der Beerdigung ihres Mannes getan hatten, längst nachdem sie aufgehört hatten zu schlagen.
Sie hatte ja keine Ahnung gehabt.
Und Sieglinde Reichards Großvater, Dr. Schneiders Vater, war einer dieser grausamen Mörder gewesen. Er hatte über zweihundert Kinder mit eigener Hand getötet.
» Unfassbar«, sagte Kommissar Gebert leise. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Nur in seinen unfokussiert blickenden Augen konnte Inga Jäger lesen, wie sehr auch ihn das Lüften dieses vergessenen Geheimnisses mitnahm.
Er nahm den Becher, den sie ihm reichte, und schüttete eine Unmenge an Zucker hinein– so als könne die Süße das Furchtbare vertreiben, das sie gerade erfahren hatten, oder ihn daran hindern, bei dem Gedanken an so viel menschliche Grausamkeit den Verstand zu verlieren.
» Gehen wir raus eine rauchen«, schlug Inga Jäger vor.
Sie war noch nicht wieder dazu in der Lage, über den Fall zu reden. Gebert trottete wie ferngesteuert hinter ihr her zum Hinterausgang des Gebäudes, wo sie sich nebeneinander an das Geländer der Außentreppe lehnten. Er hielt ihren Kaffeebecher, während sie zwei Zigaretten aus der Packung holte und sie anzündete.
Schon die ersten beiden Züge beruhigten sie ein wenig. Sie steckte eine der Zigaretten in Geberts Mund und nahm ihren Kaffeebecher wieder entgegen.
So standen
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