Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
sie fünf Minuten schweigend nebeneinander und versuchten, ihre innere Ruhe wiederzugewinnen– natürlich vergeblich.
Ein solches Verbrechen wie den Kindermord auf dem Eichberg kann man nicht verstehen, verarbeiten oder verdrängen.
Eine Untat wie diese lässt einen an allem zweifeln, was man je gelernt hat über Menschlichkeit, Nächstenliebe, Güte, Barmherzigkeit und die Kraft des Guten…
…ja sogar am Sinn des Lebens selbst.
» Survival of the fittest«, schnaubte Gebert voller Verachtung.
» Natürliche Auslese schafft Sieger«, ergänzte Inga Jäger mit nicht weniger Sarkasmus in der Stimme. » Von wegen. Sie schafft Bestien. Und die sorgen dann für den Fortbestand ihrer angeblichen Herrenrasse, indem sie alle anderen vernichten.«
Ein dunkler Mercedes fuhr heran, parkte, und heraus stieg ein älterer Mann– Mitte bis Ende siebzig. Er trug eine ausgebeulte Cordhose und darüber eine alte Strickweste aus dicker, grauer Wolle, die über seinem Bauch leicht spannte. Sein runder, von Altersflecken bedeckter Kopf war beinahe völlig kahl, und mit der Nickelbrille auf der knubbeligen Nase wirkte er ein wenig wie der Weihnachtsmann ohne Bart und Kostüm. Er wirkte hilf- und auch orientierungslos, und als er sie entdeckte, kam er mit müden Schritten zu Inga Jäger und Kommissar Gebert herüber.
» Guten Tag«, sagte er höflich mit merkwürdig sanfter, ja sogar leicht unterwürfiger Stimme, so als sei es ihm peinlich, zu stören.
» Guten Tag«, antwortete Inga Jäger. » Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«
» Das wäre schön. Mein Name ist Gernot Schneider. Ich bin hier, um meinen Bruder Gunther abzuholen. Wissen Sie vielleicht, wo ich ihn finden kann?«
» Ja«, antwortete Gebert. » Gehen Sie hier herein und dann den Gang entlang nach vorn, bis Sie zur Eingangshalle kommen. Und dort bitten Sie den Kollegen am Empfang, Sie zum Vernehmungszimmer drei zu bringen.«
» Haben Sie vielen Dank«, sagte Gernot Schneider. » Und entschuldigen Sie bitte die Störung.«
» Gern geschehen«, sagte Gebert und hielt ihm die Tür auf.
Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich zwei Brüder sein können, dachte Inga Jäger, während sie dem schüchternen, alten Mann hinterherblickte.
Da kam die Otto auf den Parkplatz gefahren.
Inga Jäger und Gebert gingen ihr entgegen. Hoffentlich hatte die Untersuchung der gruseligen Postsendung an Dr. Schneider etwas ergeben.
Doch schon in dem Moment, in dem Geberts Assistentin aus dem Wagen stieg, konnte Inga Jäger ihr die Enttäuschung am Gesicht ablesen.
» Und?«, fragte Gebert.
Die Otto schüttelte den Kopf.
» Keine Fingerabdrücke«, meldete sie. » Weder auf dem Glas noch auf dem Herz oder auf dem Paketumschlag. Elli hat alles gründlich untersucht.«
» Hat sie auch die Briefmarken auf Speichelspuren für eine mögliche DNA -Analyse geprüft?«, fragte Inga Jäger.
» Mit Sicherheit«, sagte Gebert. » Sie kennen Elli doch inzwischen. Sie hat unter Garantie sogar die Rückseite des Paketscheins unter die Lupe genommen.«
Die Otto nickte zur Bestätigung. » Keinerlei Hinweise. Das Paket wurde hier in Wiesbaden auf dem Hauptpostamt abgegeben.«
» Dann müssen wir sofort dahin«, sagte Inga Jäger.
» War ich schon«, sagte die Otto.
» Irgendwelche Zeugen?«
» Nein«, antwortete die Otto. » Die sind chronisch unterbesetzt, und die Menschen stehen Schlange bis zum Eingang. Der Beamte, der den Paketschein gegengezeichnet hat, kann sich an niemanden erinnern. Der hat nicht einmal gemerkt, dass Absender- und Empfängeradresse identisch sind. Beide die von Doktor Schneider. Damit es nicht zurückverfolgbar ist.«
» Fuck«, fluchte Gebert. » Damit stehen wir wieder ganz am Anfang.«
» Nicht ganz«, widersprach Inga Jäger. » Wir wissen jetzt zumindest endlich, dass es um Sippenrache für die Nazi-Morde auf dem Eichberg geht.«
Gretchen
50
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Eichberg.
Es regnete Bindfäden. Die dichte Herbstwolkendecke machte den Tag förmlich zur Nacht, und erneut erschien die Ankunft auf dem Gelände der psychiatrischen Anstalt auf dem Eichberg wie das Betreten einer anderen, einer düsteren, aber vor allem einer verlorenen Welt; einer Welt, in der der Boden getränkt war mit dem Blut Tausender. Tausender Unschuldiger. Jungen und Mädchen, Männer und Frauen… die hier im Zweiten Weltkrieg allesamt ihr von anderen als lebensunwert bezeichnetes Leben gelassen hatten in einer wehrlosen und stummen Schlacht gegen
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