Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
erkennen«, schob Gebert ein.
» Wie gesagt, man muss das Ganze erst im Gesamtbild sehen«, meinte Dr. Schneider. » Nahezu gleichzeitig zu den Forschungen Gregor Mendels veröffentlichte Charles Darwin seine Theorie, die die Natürliche Auslese als den Basismechanismus, also die Erfolgsgrundlage der Evolution deklarierte.
Aus diesen beiden Thesen, der Vererbungslehre und der Evolutionstheorie, entwickelten nun politische Aktivisten im Laufe der folgenden Jahrzehnte den Sozialdarwinismus und die Rassenhygiene: die Idee, dass man eine reine und gesunde Gesellschaft züchten konnte, wenn man die störenden und kranken Elemente isolierte und ausmerzte. Man ging sogar so weit, zu behaupten, dass die moderne Zivilisation mit ihren Errungenschaften die Natürliche Auslese aufgehoben hatte, sodass nicht länger nur die Stärksten überlebten und dass somit das von der Natur ungewollte Überleben der Schwachen und Kranken und die Weitervererbung ihrer Mängel unweigerlich zur Degeneration der menschlichen Gesellschaft führen würde.«
Gebert wollte schon wieder etwas einwerfen, aber Inga Jäger bat ihn mit einer stummen Geste, den Doktor weiterreden zu lassen.
Was Schneider auch tat. » Diese Schwachen und Kranken auszuschalten, war also plötzlich nicht mehr nur eine Chance, eine bessere Menschheit zu formen, sondern mit einem Mal sogar eine heilige Aufgabe, um die Menschheit vor dem durch sie drohenden Zerfall zu bewahren.
All das auf perverse Weise wunderbar darstellbar unter dem Deckmantel der Wissenschaft.
Die Nationalsozialisten schrieben sich dann diese heilige Aufgabe auf die rotweißschwarze Fahne. Als sie nämlich an die Macht kamen, sorgten sie dafür, dass Tausende körperlich und geistig Behinderte gegen ihren Willen sterilisiert wurden, damit sich ihre kranken und schwachen Anlagen nicht weitervererben konnten.
Allein im Jahr 1939 ließen sie hundertachtundsiebzig Patienten der Klinik Eichberg zwangssterilisieren.«
» Scheiße!«, fluchte Gebert impulsiv vor sich hin.
Doktor Schneider sprach weiter, als hätte er den Ausrutscher nicht bemerkt. » Aber diese Zwangssterilisation war erst der Anfang. Denn schon bald war ihnen das Sterilisieren nicht mehr genug. Es wurde die Aktion T4 ins Leben gerufen; die Euthanasie oder die Vernichtung von lebensunwertem Leben, wie sie es nannten.«
» Was?«, fragte Gebert erschüttert.
Schneider nickte. » Allein in der Kinderstation des Eichbergs über Eltville am Rhein wurden ab 1940 mindestens vierhundertdreißig Kinder ermordet. Ab 1942 bis zur Befreiung durch die Alliierten im Jahr 1945 wurden dann auch Erwachsene getötet; alles in allem mehr als dreitausendsechshundert Menschen.«
» Dreitausendsechshundert?«, fragte Inga Jäger– um sicherzugehen, dass sie sich nicht verhört hatte.
» Ja«, sagte Doktor Schneider. » Insgesamt wurden in ganz Deutschland mehr als hunderttausend Menschen hilflose Opfer der Aktion T4; manche Quellen sprechen sogar von über dreihunderttausend.«
Inga Jäger war bis tief ins Mark hinein schockiert.
» Man hat sie einfach so massakriert? Wie seuchenkrankes Vieh?«, fragte sie ungläubig.
Dr. Schneider nickte noch einmal zur Bestätigung. Sein Blick war in die Ferne der Erinnerung gerichtet.
» Das ist furchtbar«, sagte Inga Jäger. » Aber worauf wollen Sie mit diesem Bericht hinaus?«
» Der Leiter der Klinik…«, sagte Schneider leise. » Der Leiter der Psychiatrie Eichberg… war Wilhelm Schneider– mein Vater.«
» Ihr Vater?«
» Ja«, bestätigte Doktor Schneider und senkte das Haupt. » Mein Vater.«
» Dreitausendsechshundert Tote«, murmelte Inga Jäger. » Und er war dafür verantwortlich?«
» Mehr als nur verantwortlich, Frau Jäger. Er hat mit eigenen Händen mehr als zweihundert Reichsausschusskinder, wie man sie damals nannte, durch Spritzen mit Morphin-Chloralhydrat, Luminaltabletten und mit der Pistole getötet und…«
Der alte Mann stockte, schluchzte, brach in Tränen aus.
» Und«, fuhr er leise fort, » das… das alles geschah in dem völlig irrsinnigen Glauben, er tue das für sein Vaterland und die Zukunft der Menschheit.«
Inga Jäger reichte ihm ein Taschentuch, und er schnäuzte sich umständlich mit jetzt zittrigen Fingern.
» Wie ging es weiter?«, fragte sie.
» Ja, was ist aus ihm geworden?«, wollte auch Gebert wissen.
» Mein Vater wurde für seine Taten nach dem Kriegsende zum Tode verurteilt, aber…«
» Aber?«
» Das war offenbar nicht genug«, sagte Schneider. »
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