Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
aus sie den alten Mann durch den Einwegspiegel beobachten konnten.
Sie sah, wie er jetzt, da er allein war, seine stoische Haltung fast augenblicklich aufgab, zusammensackte und mit den Tränen zu ringen begann.
Was war hier los?
» Elli hat gerade angerufen«, sagte Gebert.
» Und?«
» Die Luger«, sagte Gebert. » Die, mit der er sich vorhin erschießen wollte.«
» Sie hat sie identifiziert?«
» Ja«, antwortete er. » Hat sie. Und es hat sich herausgestellt: Sie ist nicht die Mordwaffe.«
» Was?«, fragte Inga Jäger verdutzt.
Das machte doch gar keinen Sinn!
» Elli meint, da die Luger die Standardwaffe der Deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg war, ist oder war sie weit verbreitet unter Männern von Schneiders Generation. Aber sie kann nach ausführlichen Tests mit Sicherheit ausschließen, dass die sechs Kugeln, die wir im Labor haben, mit denen die Opfer hingerichtet wurden, aus der Pistole abgeschossen wurden, die wir bei Doktor Schneider sichergestellt haben.«
Inga Jäger wollte ihren Ohren nicht trauen.
Da klingelte Geberts Handy, und er nahm das Gespräch mit der ihm eigenen Umständlichkeit so schnell er konnte entgegen. Nachdem er sich gemeldet hatte, nickte er einmal… und dann entgleisten seine Gesichtszüge.
» Bring es zur Busch!«, sagte er. » Und auch Elli soll es nach möglichen Spuren untersuchen!«
Er klappte das Handy wieder zu. Danach starrte er Inga Jäger für bestimmt eine halbe Minute lang fassungslos an.
» Das war die Otto«, erklärte er dann endlich. » Sie haben Sieglindes Herz gefunden.«
Er machte eine neue Pause und wirkte dabei äußerst besorgt.
» Was ist, Gebert?«, drängte Inga Jäger.
» Es ist gerade in der Villa Schneider angekommen. Per Post.«
47
» Sie sind, so wie es aussieht, doch nicht der Mörder«, sagte Inga Jäger zu Dr. Schneider, während sie an Geberts Seite in das Verhörzimmer zurückkehrte. » Ich muss Sie um Entschuldigung bitten.«
» An einer Entschuldigung von Ihnen bin ich nicht im Geringsten interessiert!«
Gibt es eine Schule, auf der man lernt, anderen Menschen das Gefühl zu geben, zweiter oder gar dritter Klasse zu sein?, fragte sich Inga Jäger. Falls ja, da war sie sich sicher, hatte Schneider dort seinen Abschluss mit summa cum laude gemacht.
Der alte Mann machte jetzt wieder– ganz so, als hätte er einen inneren Schalter umgelegt– einen völlig gefassten, aber deutlich ungehaltenen Eindruck.
» Das ist natürlich ganz Ihnen überlassen«, konterte sie. » Aber ich habe noch jede Menge Fragen an Sie.«
» Wo ist mein Anwalt?«, fragte er.
» Den brauchen Sie nicht mehr«, sagte Inga Jäger und setzte sich ihm gegenüber.
» Das zu beurteilen überlassen Sie bitte ganz getrost mir«, erwiderte er. » Ich möchte ihn anrufen.«
» Wie gesagt, Sie werden keinen brauchen. Es wird kein Ermittlungsverfahren gegen Sie wegen Mordes geben. Das hier ist jetzt nur noch eine einfache Zeugenbefragung.«
» Die ich nur in Anwesenheit meines Anwalts über mich ergehen lassen werde!«
Himmel, ist der Kerl stur!
» Bei einer einfachen Zeugenbefragung gibt es kein Recht auf die Anwesenheit eines Anwalts.«
» Wenn die Befragung durch einen Staatsanwalt durchgeführt wird, schon«, entgegnete Dr. Schneider. » So sagt es zumindest das Gesetz.«
» Aber nicht bei einer Befragung durch die Polizei«, sagte Gebert und setzte sich dazu. » Kommen Sie her.« Er deutete auf die Handschellen, die Schneider trug, und holte seinen Schlüssel aus der Tasche.
Dr. Schneider streckte ihm die Hände entgegen, und Gebert öffnete die Fesseln.
» Warum haben Sie versucht, sich umzubringen?«, fragte Gebert dann ernst.
» Ich habe nichts auszusagen«, erklärte der Arzt. » Auch nicht als Zeuge.«
Was auch immer er zu verbergen hatte, Inga Jäger wollte verdammt sein, wenn sie zuließ, dass es sich ihren Ermittlungen in den Weg stellte.
Sie beschloss, das Pferd von der anderen Seite her aufzuzäumen… und deutete auf das erste der sechs Fotos.
» Eva Schneider. Im Alter von nur zwölf Jahren ermordet auf dem Eichberg am 22. September 1945«, sagte sie, wobei sie ihn wieder, wie schon vorhin, genauestens beobachtete. » Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, wie überrascht wir waren, als wir herausfanden, dass sie Ihre jüngere Schwester war.«
Sie wartete, um ihm die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, doch von Neuem war sein Gesicht wie eine Maske aus Alabaster– unbewegt und auf den ersten Blick frei von jeder Emotion.
Weitere Kostenlose Bücher