Ihr wahrer Name
»Warum sind Sie hier? Wer hat Sie eingeladen?« wiederholte ich.
»Niemand. Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen, als Rhea mir gesagt hat, daß Leute, die meine Familie kennen oder vielleicht selbst zu meiner Familie gehören, morgen aus Chicago abreisen.« »Als ich mich am Freitag nachmittag mit Rhea Wiell unterhalten habe, hat sie gesagt, Sie wüßten nicht, ob es noch andere Radbukas gäbe, und sie würde Sie fragen, was Sie davon hielten, sie kennenzulernen.«
»Ach. Sie waren also beim Gespräch mit Rhea dabei. Sind Sie die Lektorin, die meine Geschichte aufschreiben möchte?«
»Ich bin V. I. Warshawski, eine Detektivin, die mit ihr über die Möglichkeit gesprochen hat, Sie kennenzulernen.« Ich wußte, daß ich ziemlich kühl klang, aber sein unerwartetes Auftauchen hatte mich aus dem Konzept gebracht.
»Ach, ich weiß - Sie sind die Detektivin, die bei dem Gespräch mit dem Mann vom Verlag dabei war. Dann sind Sie also mit den Überlebenden aus meiner Familie befreundet.« »Nein«, sagte ich schroff, um ihn ein wenig zu bremsen. »Ich habe Freunde, die möglicherweise jemanden aus der Radbuka-Familie kennen. Ob diese Person mit Ihnen verwandt ist, hängt von einer Menge Details ab, die wir heute abend nicht klären können. Warum kommen Sie nicht... « Er fiel mir ins Wort; sein eifriges Lächeln wich Verärgerung.
»Ich möchte alle treffen, die vielleicht mit mir verwandt sind. Und zwar nicht über Sie, nachdem Sie herausgefunden haben, wer diese anderen Radbukas sind, und überprüft haben, ob sie tatsächlich mit mir verwandt sind und sich mit mir treffen wollen. Das könnte Monate, sogar Jahre dauern - so lange kann ich nicht warten.«
»Dann haben Sie also zum Herrn gebetet, und er hat Sie zu Mr. Loewenthals Haus geführt?« fragte ich.
Er wurde rot. »Sie sind sarkastisch, aber dazu haben Sie keinerlei Anlaß. Ich habe von Rhea erfahren, daß Max Loewenthal der Mann ist, der sich mit mir treffen möchte. Und daß er einen Musikerfreund hat, der meine Familie kannte, und daß dieser Musiker nur bis morgen in der Stadt ist. Als sie mir das alles gesagt hat - daß Max und sein Freund glauben, möglicherweise jemanden aus meiner Familie zu kennen -, habe ich die Wahrheit begriffen: Entweder Max selbst oder sein Musikerfreund ist mit mir verwandt. Sie verbergen sich hinter der Aussage, sie hätten einen Freund - das kenne ich, das ist eine Finte, derer sich Menschen, die Angst davor haben, daß ihre wahre Identität ans Licht kommt, oft bedienen. Da ist mir klargeworden, daß ich die Initiative ergreifen, zu ihnen kommen muß, um ihnen dabei zu helfen, ihre Angst zu überwinden. Also bin ich die Zeitungen durchgegangen und habe gesehen, daß das Cellini-Ensemble aus England eine Tournee durch die Staaten macht und heute das letzte Konzert in Chicago gibt. Und dann habe ich den Namen Loewenthal gelesen und gewußt, daß er der Verwandte von Max sein muß.« »Rhea hat Ihnen den Namen von Mr. Loewenthal gegeben?« fragte ich, wütend darüber, daß sie einfach so in das Privatleben von Max eingedrungen war.
Er bedachte mich mit einem herablassenden Lächeln. »Sie hat mir ganz deutlich gezeigt, daß ich ihn erfahren sollte: Sie hat den Namen von Max neben meinen in ihren Terminkalender geschrieben. Da war ich mir sicher, daß eine Verbindung zwischen Max und mir besteht.« Mir fiel ein, daß ich selbst die Notiz in ihrer gestochen scharfen Handschrift gelesen hatte. Ich fühlte mich wie plattgewalzt, weil er die Fakten einfach so hinbog, daß sie seinen Wünschen entsprachen, und fragte ihn schroff, wie er die Adresse von Max herausgefunden habe - seine Privatnummer steht nicht im Telefonbuch. »Ach, das war leicht.« Er lachte wie ein Kind; plötzlich war seine Verärgerung von vorhin vergessen. »Ich habe den Leuten vom Chicagoer Symphony Orchestra gesagt, daß ich Michael Loewenthals Cousin bin und unbedingt mit ihm sprechen muß, solange er in der Stadt ist.« »Und das CSO hat Ihnen diese Adresse gegeben? « Ich war verblüfft: Belästigungen durch Fans ist bei Leuten, die öffentlich auftreten, ein so ernstes Problem, daß keine Orchesterverwaltung, die auch nur einen Pfifferling wert ist, die Privatadressen der Musiker herausgibt. »Nein, nein.« Wieder lachte er. »Sie sind Detektivin, da werden Sie Ihren Spaß an dem haben, was ich Ihnen sage. Vielleicht nützt es Ihnen sogar einmal bei Ihrer Arbeit. Ich habe tatsächlich versucht, die Adresse über die Orchesterverwaltung
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