Ihr wahrer Name
uns psychisch so weit erholt, daß wir es ertragen würden, voneinander getrennt zu werden. Aber wie soll man einen solchen Schmerz jemals ertragen? Der Verlust meiner kleinen Spielkameradin Miriam läßt mir noch heute keine Ruhe in meinen Träumen.«
Ihm brach die Stimme. Er verwendete die Serviette, die Don unter das Wasserglas gelegt hatte, um sich damit die Nase zu putzen. »Und eines Tages kam dann dieser Mann. Er war groß und hatte ein grobes Gesicht und sagte, er sei mein Vater, ich solle mit ihm gehen. Er ließ mich nicht einmal mehr meiner kleinen Miriam zum Abschied einen Kuß geben. Küssen war weibisch, und ich mußte jetzt ein Mann sein. Er hat mich auf deutsch angeschrien und war wütend, weil ich kein Deutsch mehr sprach. Als ich dann größer wurde, hat er mich immer wieder geschlagen, mir gesagt, er würde schon noch einen Mann aus mir machen, mir das Weibische und Schwule ausprügeln.« Er weinte ganz offen. Ich reichte ihm das Glas Wasser.
»Das war sicher schrecklich«, sagte Max ernst. »Wann ist Ihr Vater gestorben?« Paul schien nicht zu merken, daß er einen neuen Gesprächspartner hatte. »Der Mann, der nicht mein Vater ist. Ich weiß nicht, wann mein richtiger Vater gestorben ist. Das würde ich ja gern von dir erfahren. Oder vielleicht von Carl Tisov.«
Wieder schneuzte er sich und sah uns dann herausfordernd an. »Der Mann, der mich von meinen Lagerfreunden weggeholt hat, ist vor sieben Jahren gestorben. Danach haben meine Alpträume angefangen. Ich habe Depressionen bekommen und wurde immer verwirrter. Ich habe meine Arbeit und die Orientierung verloren. Meine Alpträume wurden immer deutlicher. Ich habe die unterschiedlichsten Dinge versucht, aber... wieder und wieder sind diese schrecklichen Bilder aus der Vergangenheit aufgetaucht, Bilder, die, wie ich jetzt weiß, meine persönliche Erfahrung der Schoah sind. Erst durch Rhea habe ich begriffen, was sie bedeuten. Ich glaube, ich habe gesehen, wie meine Mutter vergewaltigt und bei lebendigem Leib in eine Kalkgrube gestoßen wurde, aber natürlich könnte das auch eine andere Frau gewesen sein. Ich war damals ja noch so klein, daß ich mich nicht einmal mehr an das Gesicht meiner Mutter erinnern kann.« »Hat Ihr Ziehvater Ihnen gesagt, was aus... nun, seiner Frau... geworden ist?« fragte Morrell. »Er hat gesagt, die Frau, die er meine Mutter nannte, sei gestorben, als die Alliierten Wien bombardiert haben. Wir hätten in Wien gelebt und wegen der Juden alles verloren. Deshalb hat er die Juden immer gehaßt.« »Haben Sie eine Ahnung, warum er Sie in England aufgespürt hat? Oder woher er gewußt hat, daß Sie dort waren?« Ich versuchte, Sinn in seine Geschichte zu bringen.
Er breitete hilflos die Hände aus. »Nach dem Krieg herrschte überall Chaos. Alles war möglich. Ich glaube, er wollte unbedingt nach Amerika, und wenn er behauptete, Jude zu sein, was er konnte, wenn er ein jüdisches Kind hatte, rückte er ganz ans vordere Ende der Warteschlange. Besonders wenn er eine Nazivergangenheit hatte, die er verbergen wollte.« »Und Sie glauben, daß das so war?« fragte Max.
»Das weiß ich. Aus den Papieren. Ich weiß, daß er ein Stück Dreck war. Ein Anführer der Einsatzgruppen.«
»Wie schrecklich«, murmelte Don. »Jude zu sein und feststellen zu müssen, daß man mit einem der schlimmsten Feinde des eigenen Volkes aufgewachsen ist. Kein Wunder, daß er Sie so behandelt hat.«
Paul sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Dann verstehen Sie mich also! Ich bin mir sicher, daß seine Grausamkeit - er hat mich geschlagen, mir nichts zu essen gegeben, wenn er wütend war, mich stundenlang in eine Kammer gesperrt, manchmal sogar über Nacht -, daß diese Grausamkeit mit seinem Antisemitismus zusammenhing. Max Loewenthal, du bist ein Jude, du begreifst, wie schrecklich so ein Mensch sein kann.«
Max schenkte seiner Bemerkung keine Beachtung. »Ms. Warshawski sagt, Sie hätten ein Dokument unter den Papieren Ihres... Ziehvaters... gefunden, das Ihnen den Hinweis auf Ihren eigentlichen Namen gegeben hat. Dieses Dokument würde mich interessieren. Würden Sie es mir zeigen?«
Ulf-Radbuka ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Wenn ihr mir sagt, mit wem ich verwandt bin, zeige ich euch vielleicht die Papiere. Aber da ihr mir nicht helfen wollt, sehe ich keinen Grund, euch Einblick in meine privaten Dokumente zu gewähren.«
»Weder Mr. Tisov noch ich sind in irgendeiner Weise mit der Radbuka-Familie verbunden«, sagte Max. »Bitte
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