Ihr wahrer Name
Hilfe finden würde. Also ließ er sich in seinen Sessel sinken und murmelte, ein Glas Wasser würde ihm vermutlich helfen, sich ein wenig zu beruhigen. Don sprang auf, um es ihm zu holen.
Ich kam zu dem Schluß, daß ich ihm nur etwas entlocken könnte, wenn ich so tat, als glaubte ich ihm die Radbuka-Ge-schichte. Er war so labil, wechselte so rasch zwischen tiefstem Elend und höchster Ekstase hin und her und flocht alle Äußerungen, die er hörte, so bereitwillig in seine Version der Geschehnisse ein, daß ich nicht sicher sein konnte, ob ich ihm vertrauen sollte, aber wenn ich auf Konfrontationskurs ginge, würde er sich nur in sein Schneckenhaus zurückziehen und zu weinen anfangen.
»Haben Sie irgendeinen Hinweis auf Ihren Geburtsort?« fragte ich. »Soweit ich weiß, ist Radbuka ein tschechischer Name.«
»Auf der Geburtsurkunde, die mir nach Terezin geschickt wurde, stand Berlin, und das ist ein Grund, warum ich unbedingt meine Verwandten kennenlernen möchte. Vielleicht waren die Radbukas Tschechen, die sich in Berlin versteckt haben: Manche Juden sind nach Westen, nicht nach Osten, geflohen, um den Einsatzgruppen zu entkommen. Vielleicht waren sie Tschechen, die vor Ausbruch des Krieges dorthin emigriert waren. Ach, wenn ich doch mehr wüßte.« Er rang verzweifelt die Hände.
Ich wählte meine nächsten Worte mit Sorgfalt. »Es muß für Sie ein ziemlicher Schock gewesen sein, die Geburtsurkunde zu finden, als Ihr... äh... Ziehvater gestorben ist. Zu erfahren, daß Sie Paul Radbuka aus Berlin sind und nicht - wo sind Sie laut Aussage von Ulf geboren?« »In Wien. Nein, ich habe meine Geburtsurkunde von Terezin nie gesehen. Ich habe nur an anderer Stelle davon gelesen, sobald ich wußte, wer ich war.«
»Wie grausam von Ulf, darüber zu schreiben, Ihnen aber das eigentliche Dokument nicht zu hinterlassen!« rief ich aus.
»Nein, nein, ich weiß es aus einem unabhängigen Bericht. Ich habe nur durch... durch Zufall etwas davon erfahren.«
»Mein Gott, wie viele Nachforschungen Sie doch anstellen mußten!« Ich sagte das mit so tiefer Bewunderung in der Stimme, daß Morrell warnend die Stirn runzelte, aber Pauls Gesicht hellte sich merklich auf. »Ich würde gern den Bericht sehen, aus dem Sie über Ihre Geburtsurkunde erfahren haben.«
Als sich seine Züge verkrampften, wandte ich mich sofort einem anderen Thema zu. »Wahrscheinlich können Sie kein Tschechisch mehr, denn Sie wurden ja bereits im Alter von -was sagten Sie? - zwölf Monaten von Ihrer Mutter getrennt, stimmt's?«
Er entspannte sich wieder. »Wenn ich Tschechisch höre, erkenne ich es, aber ich verstehe es nicht wirklich. Die erste Sprache, die ich gelernt habe, ist Deutsch, weil das die Sprache der Wächter war. Auch viele der Frauen, die sich in Terezin um die Kinder gekümmert haben, sprachen Deutsch.«
Ich hörte, wie hinter mir die Tür aufging, und hob die Hand, um eventuelle Unterbrechungen zu verhindern. Don schlüpfte an mir vorbei, um ein Glas Wasser neben Paul abzustellen. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Max ebenfalls hereingekommen war. Pauls Freude darüber, in mir eine Zuhörerin für seine Geschichte gefunden zu haben, war so groß, daß er den beiden keine Beachtung schenkte.
»Wir waren sechs Kinder, die praktisch immer zusammensteckten. Sogar schon im Alter von drei Jahren paßten wir aufeinander auf, weil die Erwachsenen so überarbeitet und so unterernährt waren, daß sie sich nicht um einzelne Kinder kümmern konnten. Wir hingen zusammen und versteckten uns miteinander vor den Aufsehern. Nach Ende des Krieges wurden wir nach England geschickt. Zuerst hatten wir Angst, als die Erwachsenen uns in Züge setzten, weil wir in Terezin viele Kinder gesehen hatten, die mit Zügen wegfuhren, und wir wußten ganz genau, daß sie an ihrem Bestimmungsort starben. Aber nachdem wir unsere Angst überwunden hatten, genossen wir die Zeit in England. Wir waren in einem großen Haus auf dem Land untergebracht; es trug den Namen eines Tieres, eines Hundes, was uns anfangs einen Schrecken einjagte, weil wir uns vor Hunden fürchteten. Die Wächter im Lager hatten Hunde gehabt.« »Und dort haben Sie Ihr Englisch gelernt?« fragte ich.
»Wir haben die Sprache ganz allmählich gelernt, wie das bei Kindern so ist, und unser Deutsch vergessen. Nach einer Weile, vielleicht nach neun Monaten oder auch einem Jahr, haben sie angefangen, Leute für uns zu suchen, Leute, die uns adoptieren wollten. Sie waren der Meinung, wir hätten
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