Ihr Wille Geschehe: Mitchell& Markbys Zehnter Fall
Allein. Hier hatte sie gelegen, vielleicht noch bei Bewusstsein, wenigstens zu Anfang, und unfähig, sich zu bewegen, bevor sie ohnmächtig geworden war. Zwei Tage und zwei Nächte lang, bevor sie am Montagmorgen von ihrer Haushälterin Janine gefunden worden war.
»Genau hier.« Janine zeigte auf die Stelle.
»Genau hier hab ich sie gefunden.« Sie standen schweigend dort und blickten hinunter auf die mit Kreide markierte Stelle am Fuß der Treppe. Meredith erschauerte. Alan sah die Treppe hinauf.
»Sie ist von dort oben irgendwo gefallen, sagen Sie?«
»Warten Sie, ich zeig’s Ihnen.« Janine polterte in ihren schweren Stiefeln die Treppe hinauf. Der durchgetretene Teppich lag immer noch dort.
»So alt wie kein Esel wird, wie alles andere in diesem Haus«, sagte Janine.
»Mrs Smeaton wollte nie etwas ersetzen. Nicht, dass sie kein Geld dafür gehabt hätte – sie sah die Notwendigkeit nicht ein. Nicht in meinem Alter, hat sie immer gesagt.« Sie beugte sich vor und deutete auf eine gebrochene Geländersprosse.
»Sie gehen davon aus, dass Mrs Smeaton gestolpert ist und nach dem Geländer gegriffen hat, um sich zu fangen. Das Geländer brach, und sie fiel Hals über Kopf die Treppe runter.« Janine setzte sich auf den ausgetretenen Läufer.
»Und alles wegen den alten Pantoffeln! Ich hab ihr gesagt, dass sie sich neue kaufen soll, und sie hat tatsächlich welche bestellt, aber es war zu spät. So war sie eben. Jede Menge Geld, aber in Kleinigkeiten geizig. Sie wollte nie irgendetwas Neues kaufen, und am Ende hat es sie umgebracht, sehen Sie?« Janine nickte zufrieden. Sie hatte ihren Standpunkt bewiesen. Alan untersuchte die gebrochene Strebe.
»Mmmh …«, murmelte er. Sie stiegen wieder nach unten in die Empfangshalle.
»Möchten Sie die Küche sehen?«, fragte Janine.
»Wenn Sie das Haus eventuell kaufen wollen, werden Sie bestimmt auch die Küche sehen wollen. Aber ich muss Sie warnen – es muss alles neu gemacht werden.« Meredith hatte ganz vergessen, dass sie sich vordergründig als Kaufinteressenten ausgegeben hatten, und beeilte sich, einen interessierten Eindruck zu machen. Die Küche war, wie nicht anders zu erwarten, riesig. Auf einer Seite stand ein gewaltiger viktorianischer Herd. Daneben stand ein moderner Gasofen. Das Spülbecken aus Steingut unter dem Fenster war so groß wie eine Pferdetränke; daneben führte eine Tür nach draußen in den Garten hinter dem Haus. Janine blickte wehmütig drein.
»Ich hab hier drin für Mrs Smeaton gekocht. Nicht, dass sie viel gegessen hätte. Ein paar Kartoffeln und ein wenig Fisch. Selten mehr.«
»Hat sie im Esszimmer gegessen?«, fragte Meredith. Janine schüttelte den Kopf, und der silberne Totenschädel tanzte erneut.
»Nein, sie ist immer hierher in die Küche gekommen. Ich hab sie immer gerufen, wenn ich fertig war. Wir hatten einen großen Tisch. Er stand genau hier.« Sie deutete auf die Stelle, und Meredith sah vier Abdrücke auf den Steinfliesen, wo die Tischbeine jahrzehntelang gestanden hatten.
»Ich habe einmal in der Woche gebacken, jede Menge Marmeladentörtchen und einen Biskuitkuchen, manchmal auch eine Apfeltorte. Das war ihr genug.« Janine zögerte.
»Ich hab an dem Tag gebacken, an dem ich ihr den Zeitungsausschnitt mit den Pantoffeln gegeben habe. Sie saß dort …« Janine deutete auf die freie Fläche, wo der Tisch gestanden hatte.
»Es war ein richtig heißer Tag. Die Sonne brannte vom Himmel, und hier drin war es wegen dem Backofen heiß wie in einer Sauna. Ich hatte das Fenster und die Tür auf, und ich hab immer noch geschwitzt. Ich hatte gerade das letzte Stück Gebäck aus dem Ofen genommen, ein Zitronenbaiser, und wollte es auf den Tisch stellen, als Mrs Smeaton in die Küche kam. ›Ich würde gerne eine Tasse Tee trinken, Janine‹, sagte sie zu mir. Ich hätte viel lieber ein kaltes Bier getrunken!« Janine lachte.
»Aber ich hab Tee gemacht, und dann haben wir uns hingesetzt und Tee getrunken, und ich hab ihr den Zeitungsausschnitt gezeigt. ›Hier, sehen Sie!‹, sagte ich zu ihr. ›Man kann sie mit der Post bestellen. Sie müssen nicht aus dem Haus und selbst einkaufen. Die Post bringt sie zu Ihnen. Sie können unmöglich noch länger in diesen alten Dingern rumlaufen. Sie werden sich noch zu Tode stürzen!‹ Und so ist es dann ja auch gekommen.« Janine nickte. Meredith war sicher, dass die junge Haushälterin traurig über den Tod ihrer ehemaligen Arbeitgeberin war, doch sie schien zugleich auch eine
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