Ihre Leidenschaft
die ins Herz gebohrte Lanze herauszuziehen, ohne es zu zerfetzen.
Ein Schrei, lauter, schriller als die anderen. Eine knallende Tür. Ende des Paares auf dem Gang.
Wieder Stille, die große Stille, in die man alles hineindeuten kann, unruhige Schlaflosigkeit, Urängste, feuchte Höhlen, erloschenes Feuer, lauernde Raubtiere.
M ANCHMAL IST DIE L IEBE ein Köder. Manchmal trägt uns die Freude fort und kehrt doch beschmutzt und schändlich zu uns zurück.
Hélène erinnert sich an ihre Freude als Kind, am Strand von Trouville. Das Haus der Cousine liegt über dem Strand, die Fensterfront und die große Terrasse öffnen sich zum Meer, die Leute, die abends auf dem Deich spazieren gehen, blicken neidvoll auf das reiche Haus, regloser Ozeandampfer über den Köpfen.
Es ist ganz früh am Nachmittag, im Herbst. Das Licht ist blass, die Nacht bricht früh herein, kaum spaziert man durch den Tag, versinkt die Sonne schon im Meer, und der Tag in seiner Vergänglichkeit hat etwas Gezwungenes – ein eher ungelegener Gast, der sich früh zurückzieht.
Hélène läuft gern allein mit dem Hund über den Strand. Sie hat immer Angst, wenn Ebbe ist, aber sie mag diese Angst, der Feind ist nah, die wütenden Wogen schwellen hinter dem Horizont, bald kommt der Sturmangriff, die wilde Attacke, und wenn Hélène als Herausforderung, aus dummem Mut beschließen würde, ihm entgegenzugehen, wäre es vorbei. Sie würde das Schwarz der Algen, das Schwarz der Tiefe, die brodelnde Stille in den Ohren, das Salzwasser im Bauch und unter ihrer faltigen Haut kennenlernen, sie wäre verloren, es wäre ein Drama, die beiden Cousinen würden sich gegenseitig mit Vorwürfen überhäufen, und ihr Vater würde weit schwimmen, so lange, wie nur er es kann, ihr Vater würde sie wiederfinden, sie zurückbringen, sie behalten. Für alle Zeit. Im zu kleinen Haus.
An diesem Nachmittag ist die Flut noch fern, und der Hund hat angefangen, inbrünstig an einer Stelle zu scharren, wo ein im Sand steckendes Messer kleine Blasen aufsteigen lässt. Hélène spielt mit ihm, mal sehen, wer schneller scharrt, und sie bellt auch, sie bellt oft, heimlich natürlich, und an diesem Tag ist der Strand menschenleer. (Weil sich die Hunde so verständigen, hat sie sich gedacht, dass es keinen Grund gibt, warum sie sie nicht verstehen sollten, wenn sie aus ganzer Seele ihre aufrichtigen, dringenden Gedanken herausbellt.) Sie haben lange gebellt und gescharrt, von den kleinen Bläschen ist Hélène zum Bau von Festungsmauern übergegangen, dann zur Errichtung einer Sandburg, die sie gleich danach eifrig niedergetrampelt hat, sie sind glücklich und sorglos an diesem Strand, an diesem Nachmittag, der Hund und sie. Hélène ist sehr stolz, als sie nach Hause kommt, ihre Mutter wäre bestimmt zufrieden, dass sie so lange Luft geschnappt hat, ihre Mutter legt großen Wert darauf, dass die Kinder Luft schnappen, und Hélène hört diesen Satz sehr gern, er bedeutet, dass die Welt trotz allem auch ein bisschen ihnen gehört, auch wenn man so arm wie eine Kirchenmaus ist, hat man doch das Recht, sich etwas davon zu schnappen, wie die anderen etwas Luft zu schnappen.
Die Cousine ist zu Hause. Oben. In der oberen Etage mit den Schlafzimmern. Sie ist immer nett, immer aufmerksam, es gefällt ihr sehr, dieses Kind bei sich zu haben, aber an diesem Tag im Flur vor den Schlafzimmern der oberen Etage brüllt sie. Hélène hört, wie sie sie anschreit, und sie sieht zu dem Fenster ganz am Ende des Flurs, dem Fenster nach draußen, zum kleinen Weg, der zum Strand führt, und das Fenster sagt ihr, dass sie woanders sein könnte und nicht dieses Geschrei hören würde, sie könnte jemand anderes sein und nicht so leiden, sie könnte größer sein und mehr Platz haben, um all ihren Kummer darin unterzubringen, und die Cousine brüllt immer weiter.
Und das musste sie natürlich der Mutter erzählen. Später. Orly Perpignan.
Und während Hélène bloß eine Dummheit zu erzählen glaubte, wegen der die Cousine mit ihr geschimpft hatte, hatte sie ein Drama ausgelöst.
»Erzähl mir noch mal, was passiert ist, los, erzähl es mir noch mal, Hélène, ganz genau.«
»Ich bin mit meinen neuen Schuhen über den nassen Sand gelaufen.«
»Ich weiß, ich weiß, aber was hat sie da gesagt?«
»Sie hat gesagt, es ist eine Schande.«
»Schande? Sie hat Schande gesagt?«
»Ja, ich glaube.«
»Und dann?«
»Dass es echtes Leder ist.«
»Aber danach, was hat
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