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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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der Brücke hinter ihm rot. »Ich verließ das Boot, schaltete auf internes O 2 und tauchte stundenlang«, fuhr Mahnmut fort. »Ich arbeitete mit Brechstangen, benutzte meine Manipulatorfinger und verbrauchte den letzten Rest Azetylen, aber ich bekam die Laderaumtüren nicht auf, bekam den Schutt nicht aus dem überfluteten Zugang zum Laderaum. Orphu stand noch eine Weile mit mir in Kontakt, aber als die internen Systeme versagten, verlor ich ihn. Er klang nicht besorgt oder ängstlich, nur müde … sehr müde. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Verbindung abbrach. Es war dunkel. Ich muss das Bewusstsein verloren haben. Vielleicht liege ich jetzt auf dem Grund des Marsmeers und bin genauso tot wie Orphu, oder ich sterbe gerade und träume dieses Gespräch, während sich die letzten Zellen meines organischen Gehirns abschalten.«
    »Von all den Herzen reich ist deine Brust«, sagte Shakespeare mit monotoner Stimme, »die du vermisstest und für tot beweintest. Nur dort herrscht Liebe und herrscht Liebeslust, weilt jeder Freund, den du begraben meintest.«
     
    Als Mahnmut wieder zu sich kam, lag er im matten, morgendlichen marsianischen Tageslicht am Strand, umringt von Dutzenden kleiner grüner Männchen. Sie beugten sich über ihn, betrachteten ihn mit kleinen schwarzen Augen, die in ihren grünen, durchsichtigen Gesichtern saßen, und als er sich mit dem leichten Surren seiner Servos aufrichtete, wichen sie ein, zwei Schritte zurück.
    Sie waren wirklich klein. Mahnmut maß knapp über einen Meter. Diese … Wichte waren noch kleiner. Von der Gestalt her humanoider als Mahnmut, sahen sie dennoch nicht wirklich menschlich aus. Sie waren zweifüßig und hatten Arme und Beine, aber keine Ohren, keine Nase und keinen Mund. Sie trugen keine Kleider und hatten nur drei Finger an jeder Hand, fast wie die Comic-Figuren, die Mahnmut in den Medienarchiven des Untergegangen Zeitalters gesehen hatte. Sie waren geschlechtslos, stellte Mahnmut fest, und ihre Haut – falls die Bezeichnung zutraf – war durchsichtig wie weicher Kunststoff und gab den Blick auf Innereien ohne Organe oder Adern frei; ihre Körper waren mit schwebenden grünen Kügelchen und Klümpchen, Teilchen und Tröpfchen gefüllt, die sich alle nicht viel anders bewegten als das Innere von Mahnmuts geliebter Lavalampe, die jetzt einsam und verlassen im gesunkenen U-Boot lag.
    Weitere kleine grüne Männchen kamen einen in die Felswand gehauenen Pfad herunter. Ungefähr einen Kilometer weiter östlich sah Mahnmut das letzte der aufgerichteten Steingesichter. Hoch über ihnen, dicht am Rand der Klippe, lag ein weiteres waagrecht auf einer langen, auf Rollen gelagerten Holzpalette, umwickelt mit Seilen. Die Details der Gesichter waren nicht zu erkennen.
    Zum Teufel mit den Köpfen. Mahnmut fuhr herum und suchte das Meer und den Strand ab. Träge Wellen rollten mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms herein. Wo ist die Dark Lady?
    Da war sie – zweihundert Meter weit draußen. Ein Stück vom Oberteil des Rumpfes und vom Brückenaufbau war deutlich zu erkennen. Ihr Ultraschall-Echolot und das Sonar waren vor ihr gestorben, und Mahnmut hatte vielleicht das älteste und schlimmste Verbrechen eines Schiffskapitäns begangen: sein Schiff auf Grund zu setzen. Er hatte auf interne Sauerstoffversorgung geschaltet, während er mit aller Kraft daran gearbeitet hatte, die Laderaumtüren auf dem sandigen, schlammigen Meeresboden freizulegen, aber er erkannte, dass er während der Nacht das Bewusstsein verloren haben und an Strand geschwemmt worden sein musste.
    Orphu! Wie lange war er ohnmächtig gewesen und hatte von Shakespeare geträumt? Knapp vier Stunden, seinem inneren Chronometer zufolge.
    Er könnte dort drin immer noch am Leben sein. Mahnmut machte ein paar Schritte zum Wasser. Er wollte auf dem Meeresboden bis zum gestrandeten U-Boot gehen.
    Ein Dutzend kleine grüne Männchen traten zwischen Mahnmut und das Wasser und versperrten ihm den Weg. Dann zwanzig. Dann fünfzig. Hundert weitere umringten ihn am Strand.
    Mahnmut hatte weder seine Hand noch seinen Manipulator jemals im Zorn erhoben, aber jetzt war er bereit zu kämpfen, sich mit Schlägen, Hieben und Tritten seinen Weg durch diesen Haufen zu bahnen, wenn es sein musste. Aber zuerst würde er versuchen, mit ihnen zu sprechen. »Geht mir aus dem Weg«, sagte er, und seine Stimme schallte mit voller Verstärkung laut in die Marsluft hinaus. »Bitte.«
    Die schwarzen Augen in grünen Gesichtern starrten ihn an.

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