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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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drei der höchsten Vulkane auf dem Mars zwischen uns und dem Olympus stehen.«
    Orphu rumpelte fast im Infraschallbereich. »Reise um die Welt in achtzig Tagen, hm?«
    »Nicht um die Welt«, sagte Mahnmut. »Einschließlich dieser Bootsfahrt ist es nicht viel mehr als ein Viertel einer Umrundung.«
     
    Mahnmut versuchte, die Zeit herumzubringen und seine Niedergeschlagenheit loszuwerden, indem er Shakespeares Sonette in dem echten Buch las, das er aus der Dark Lady geborgen hatte. Es funktionierte nicht. In den letzten Jahren hatte er sich in die Analyse vertieft und verborgenen Strukturen, Wortverbindungen und dramatischen Inhalten nachgespürt, aber jetzt fand er die Sonette nur noch traurig. Traurig und ziemlich gemein.
    Mahnmut dem Moravec war es herzlich egal, was »Will« der »Dichter« in den Sonetten mit dem »jungen Mann« machte oder seinerseits von ihm erwartete – Mahnmut hatte weder Penis noch Anus und vermisste beides nicht –, aber die Art, wie der ältere Dichter den nicht besonders hellen, aber reichen »Jüngling« mit Schmeicheleien überhäufte und mit unverhohlenen Schikanen überzog, wirkte nun bedrückend auf Mahnmut und grenzte an Perversion. Er ging zu den »Dark Lady«-Sonetten über, aber die waren noch zynischer und perverser. Mahnmut stimmte der Analyse zu, derzufolge sich das Interesse des Dichters an dieser Frau just auf ihre Promiskuität konzentrierte – diese Frau mit den dunklen Haaren, dunklen Augen, dunklen Brüsten und dunklen Brustwarzen war, wenn man dem Dichter Glauben schenken durfte, keine Hure, aber sicherlich so etwas wie eine Schlampe.
    Mahnmut hatte schon vor langer Zeit Freuds Abhandlung »Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne« von 1910 heruntergeladen, in welcher der Medizinmann aus dem Untergegangenen Zeitalter Fallgeschichten von Menschenmännern dokumentiert hatte, die nur von als promiskuös bekannten Frauen sexuell erregt wurden. Shakespeare hatte nicht gezögert, die Vagina einer Frau als die Bucht, wo jeder anlegt zu beschreiben und sich mit spöttischen Wortspielen über die unbekümmerte Promiskuität seiner dunklen Dame auszulassen, und Mahnmut hatte glückliche Jahre damit verbracht, tiefere Ebenen und dramatische Strukturen hinter diesen Vulgaritäten zu finden, aber an diesem Tag – die Sonne kurz davor, direkt vor ihnen in dem großen Binnenmeer unterzugehen, die Klippen im Norden rosarot leuchtend – waren die Sonette für ihn nichts weiter als schmutzige Wäsche, die intimen Geständnisse eines durch und durch versauten Dichters.
    »Liest du deine Sonette?«, fragte Orphu.
    Mahnmut, der in der Nähe des Bugs saß, klappte das Buch zu. »Woher weißt du das? Hast du dich jetzt auf Telepathie verlegt, nachdem du deine Augen verloren hast?«
    »Noch nicht«, rumpelte der Ionier. Orphus riesiger Krebsrumpf war zehn Meter von Mahnmut entfernt ans Deck gebunden. »Manchmal ist dein Schweigen literarischer als sonst, das ist alles.«
    Mahnmut stand auf und wandte sich dem Sonnenuntergang zu. Die kleinen grünen Männchen arbeiteten unter Hochdruck in der Takelage und entlang der Trosse des Treibankers und bereiteten das Schiff auf ihre Schlafphase vor. »Weshalb hat man wohl einigen von uns eine Neigung zu menschlichen Büchern einprogrammiert?«, fragte er. »Welchem Nutzen kann das jetzt, wo die Menschheit möglicherweise ausgestorben ist, für einen Moravec noch haben?«
    »Das habe ich mich auch schon gefragt«, bekannte Orphu. »Koros III. und Ri Po waren nicht von unserem Gebrechen befallen, aber du hast bestimmt auch ein paar gekannt, die von menschlicher Literatur besessen waren.«
    »Mein alter Partner, Urtzweil, las immer wieder die King-James-Version der Bibel. Er hat sie jahrzehntelang studiert.«
    »Ja«, sagte Orphu. »Und ich und mein Proust.« Er summte ein paar Takte von »Me and My Shadow«. »Weißt du, was all diese Werke, von denen wir uns angezogen fühlen, gemeinsam haben, Mahnmut?«
    Mahnmut überlegte einen Augenblick lang. »Nein«, sagte er schließlich.
    »Sie sind unerschöpflich.«
    »Unerschöpflich?«
    »Sie verbrauchen sich nicht. Wären wir Menschen, wären diese speziellen Stücke, Romane und Gedichte wie Häuser, in denen sich immer neue Räume, Geheimtreppen und unentdeckte Dachböden auftun … so was in der Art.«
    »Mhm.« Mahnmut nahm ihm diese Metapher nicht ab.
    »Du scheinst heute nicht glücklich mit dem Barden zu sein«, sagte Orphu.
    »Ich glaube, seine Unerschöpflichkeit hat mich

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