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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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erschöpft«, gab Mahnmut zu.
    »Was passiert an Deck? Viele Aktivitäten?«
    Mahnmut wandte sich vom Sonnenuntergang ab. Dreiviertel der KGM-Besatzung des Schiffes hastete schweigend hin und her, kletterte hierhin und dorthin, ließ den Treibanker zu Wasser und band Dinge fest oder sicherte sie auf andere Weise. Es waren nur noch drei oder vier Minuten brauchbaren Sonnenscheins übrig, bevor sie in ihren Dunkelschlaf fielen – sie legten sich hin, rollten sich zusammen und schalteten für die Nacht ab.
    »Hast du die Vibrationen im Deck gespürt?«, fragte Mahnmut seinen Freund. Außer dem Riechvermögen war das der letzte Sinn, der Orphu geblieben war.
    »Nein, ich wusste einfach, dass es diese Tageszeit ist. Warum hilfst du ihnen nicht?«
    »Wie bitte?«
    »Hilf ihnen«, sagte Orphu. »Du bist ein tüchtiger Seemann. Zumindest kennst du den Unterschied zwischen Ankertau und Seemannsgarn. Pack einfach mit an.«
    »Ich würde nur im Weg stehen.« Er betrachtete die kleinen grünen Männchen, sah, wie schnell und mit welch absoluter Präzision sie arbeiteten. Sie flitzten in der Takelage nach draußen und die Masten hinauf wie Affen, die er auf Videos gesehen hatte. »Bei uns gibt es keine Telepathie«, fügte er hinzu. »Aber bei ihnen schon, da bin ich ziemlich sicher. Sie brauchen meine Hilfe nicht.«
    »Unsinn. Mach dich nützlich. Ich beschäftige mich wieder mit Monsieur Swann und seiner treulosen Freundin.«
    Mahnmut zögerte einen Moment, steckte dann jedoch das unersetzliche Buch mit den Sonetten in seinen Rucksack, trabte zum Mitteldeck und gesellte sich zu der Gruppe, die gerade das heruntergelassene Lateinersegel festzurrte. Zuerst hielten die KGMs bei ihrer synchronisierten Arbeit inne und starrten ihn nur mit den anthrazitschwarzen Knopfaugen in ihren klaren, grünen, schwach ausgeprägten Gesichtern an, aber dann machten sie Platz, und Mahnmut warf einen Blick auf die untergehende Sonne, atmete die saubere Marsluft ein und stürzte sich in die Arbeit.
     
    Im Lauf der nächsten paar Wochen änderte sich Mahnmuts Gemütsverfassung. Aus Niedergeschlagenheit wurde zunächst Zufriedenheit und dann so etwas wie das Moravec-Pendant von Freude. Er half den KGMs jeden Tag bei der Arbeit und unterhielt sich weiterhin mit Orphu, während er Segel nähte, Taue spleißte, Decks putzte, den Anker einholte und am Ruder saß. Die Feluke machte ungefähr vierzig Kilometer pro Tag, was sehr wenig schien, bis man mit einberechnete, dass sie stromaufwärts fuhren, mit unregelmäßigen Winden segelten, einen Großteil der Zeit ruderten und bei Nacht stets vor Anker lagen. Da die Valles Marineris ungefähr 4000 Kilometer lang waren, was fast der Breite eines Staates aus dem Untergegangenen Zeitalter namens USA entsprach, fand Mahnmut sich damit ab, dass sie für die Strecke ungefähr hundert Marstage brauchen würden. Und wenn sie den Westrand des Binnenmeeres erreichten, so rief er sich immer wieder ins Gedächtnis – und falls er es vergaß, erinnerte ihn Orphu daran –, lagen noch über 1800 Kilometer auf dem Tharsis-Plateau vor ihnen.
    Mahnmut hatte es nicht eilig. Die Freuden des Segelschiffs – es hatte keinen Namen, soweit der Moravec wusste, und er würde sicherlich kein kleines grünes Männchen töten, um es danach zu fragen – waren schlicht und real, der Ausblick war überwältigend, die Sonne war tagsüber warm und die Luft nachts köstlich kühl, und die verzweifelte Dringlichkeit ihrer Mission verblasste unter dem beruhigenden Zyklus der Routine.
    Am Ende der sechsten Woche auf dem Wasser tauchte weniger als einen Kilometer voraus ein Streitwagen auf, während Mahnmut gerade am vorderen Mast der Feluke arbeitete. Der Wagen kam in geringer Höhe auf sie zu – nur etwa dreißig Meter über den Segeln des Schiffes –, sodass Mahnmut keine Zeit hatte, Deckung zu suchen. Er war allein an der Stelle, wo die beiden Teile des Masts aufeinander trafen – das Segel einer Feluke ist dreieckig, ihre beiden Masten sind segmentiert, der obere Teil neigt sich verwegen nach hinten –, und in der Takelage befanden sich keine kleinen grünen Männchen. Mahnmut war dem Blick der Insassen des Streitwagens völlig schutzlos ausgesetzt.
    Er flog mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Stundenkilometern fast im Tiefflug über sie hinweg, und Mahnmut sah, dass die beiden Pferde, die den Streitwagen zogen, Hologramme waren. Ein Mann in einem braunen Kittel – einer Tunika oder einem Chiton – war der einzige

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