Ilium
dem Hals ragen, und die Pferde laufen noch schneller davon als die geflohenen griechischen Helden, sodass der alte Nestor in seinem pferdelosen Streitwagen allein zurückbleibt, während Hektor schnell näher kommt.
Als Odysseus vorbeiläuft, ohne dem alten Mann auch nur einen Blick zuzuwerfen, ruft Nestor: »Wohin fliehst du, Sohn des Laertes, erfindungsreicher Odysseus …«, aber sein Sarkasmus bleibt ohne Wirkung. Odysseus verschwindet in der Staubwolke des panischen Rückzugs, ohne für seinen alten Freund auch nur langsamer zu werden.
Diomedes, der sich schon immer weniger vor Schmerz oder Tod gefürchtet hat als davor, ein Feigling genannt zu werden, fährt mit seinem Streitwagen wieder ins Getümmel. Offenbar will er Nestor retten und Hektor zurücktreiben. Er schnappt sich Nestor wie einen schrumpligen Wäschesack, und der alte Wagenlenker ergreift mit beiden Händen die Zügel und hält, statt die Flucht zu ergreifen, mit Diomedes’ Streitwagen direkt auf den angreifenden Hektor zu. Diomedes kommt nah genug an Hektor heran, um seine Lanze nach ihm zu werfen, aber das schwere Wurfgeschoss tötet Hektors Lenker, Eniopeus, den Sohn des Thebaios, und als sein Leichnam rücklings in die überraschten Fußsoldaten fliegt und Hektors Pferde sich außer Kontrolle aufbäumen, ändert sich alles.
Ich habe gelesen, dass es in vielen Schlachten einen solchen Moment gibt, in dem alles auf Messers Schneide steht. Während Hektor seine Pferde wieder in den Griff zu bekommen versucht und die Trojaner um ihn herum verwirrt innehalten, sehen die Griechen eine mögliche Schicksalswende und stürmen hinter dem alten Nestor und Diomedes her in die von ihnen geschlagene Bresche. Einen Moment lang haben die Achäer die Initiative zurückerobert und machen mit trotzigem Geschrei die Männer nieder, die den trojanischen Angriff anführen.
Dann greift Zeus erneut ein. Donner dröhnt. Blitze spalten die Erde, und Pferde verschwinden in einem Lichtblitz mit dem Gestank von Schwefel und brennenden Hufen. Achäische Streitwagen in der Nähe von Diomedes und Nestor explodieren in einem Wirrwarr von rauchendem Pferdefleisch und umher fliegenden Leichenteilen. Bronze schmilzt, Lederschilde gehen in Flammen auf. Selbst der begriffsstutzige Diomedes merkt, dass Zeus heute nicht gut auf ihn zu sprechen ist.
Nestor versucht, die scheuenden Pferde herumzureißen, aber sie gehen durch. Ihr Streitwagen ist jetzt allein auf weiter Flur, weil die anderen Achäer Fersengeld gegeben haben, und er holpert auf zehntausend wütende Trojaner zu.
»Auf, Diomedes, nimm die Zügel und hilf mir, die Rosse zu wenden!«, schreit Nestor. »Heute weiterzukämpfen bedeutet den sicheren Tod!«
Diomedes nimmt dem alten Mann die Zügel aus den Händen, ohne den Streitwagen jedoch zu wenden. »Wenn ich heute weglaufe, alter Mann, wird Hektor sich vor seinen Leuten brüsten: ›Tydeus’ Sohn ist aus Furcht vor mir zu den Schiffen geflohen.‹«
Nestor packt Diomedes an seinem muskulösen Hals. »Sag mal, bist du ein Kleinkind? Wende den verdammten Streitwagen, du Arschloch, oder Hektor macht uns zu Hackfleisch, bevor in Troja Teestunde ist!«
Oder so ähnlich. Ich bin hundert Meter entfernt auf dem Schlachtfeld, als dies geschieht, und eventuell funktioniert das Richtmikrofon in meinem Stab nicht einwandfrei. Außerdem laufe ich gerade mit den anderen weg, weil ich zu einem achäischen Fußsoldaten gemorpht habe, und beobachte alles über die Schulter hinweg, während uns Paris’ Pfeile um die Ohren fliegen.
Diomedes ringt zwei oder drei Sekunden lang mit diesem Dilemma und dann stattdessen mit den Pferden, reißt ihre Köpfe herum und fährt mit dem Streitwagen zu den schwarzen Schiffen zurück, wo er in Sicherheit ist.
»Ha!«, schreit Hektor über das Getöse hinweg. Er hat einen neuen Wagenlenker – Archeptolemos, Iphitos’ gutaussehenden Sohn – und setzt den Angriff nun mit der erneuerten Kraft eines Mannes fort, dem seine Arbeit so richtig Spaß macht. »Ha! Diomedes – hab ich dich in die Flucht geschlagen! Du Hasenfuß! Du kleines Mädchen! Du feiges Püppchen! Du bibbernder Spatzenfurz!«
Diomedes dreht sich im Streitwagen um und funkelt ihn wütend und verlegen an, aber Nestor hält jetzt die Zügel in der Hand, und die Pferde haben selbst herausgefunden, wohin sie laufen müssen, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie lassen den Streitwagen in ihrem wildem Galopp zum Strand und zur Sicherheit über Steine, Furchen und fliehende
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