Ilium
Ausgewogenheit seines Körpers –, und dann werden der Laertessohn und Diomedes dem jungen Mann die Kappe, den Bogen und den Wolfspelz abnehmen. Odysseus erklärt dem entsetzten Jungen sanft, dass sie ihn entwaffnen, bevor sie ihn als Gefangenen ins Lager bringen, und dann schlägt Diomedes Dolon mit einem brutalen Schwerthieb den Kopf ab. Dolons Kopf wird noch um Gnade schreien, als er schon über den Sand kullert.
Und Odysseus wird die Lanze des Jungen, seinen Bogen, die Marderkappe und den Wolfspelz hochhalten und sie Pallas Athene mit dem Ruf anbieten: »Freue dich daran, Göttin! Nun leite uns wieder zu den Lagerstätten der Thraker, damit wir noch mehr Männer töten und ihre Pferde stehlen können! Auch diese Beute wird dein sein.«
Barbaren. Ich bin unter Barbaren. Selbst die Götter sind hier Barbaren. Eines steht fest – ich werde heute Nacht nicht zu Odysseus gehen und mit ihm reden.
Aber weshalb muss Patroklos sterben?
Weil ich anfangs Recht hatte – Achilles ist der Schlüssel, der Angelpunkt, durch den ich das Schicksal von Göttern und Menschen gleichermaßen verändern kann.
Ich glaube nicht, dass Achilles in ein paar Stunden aufbricht, wenn »die rosenfingrige Eos erscheint«. Mh-mh. Ich glaube, er bleibt hier und schaut zu, genau wie in Homers Geschichte, und weidet sich am fortdauernden Unglück der Griechen. »Zu meinen Knien, meine ich, werden die Achäer jetzt flehend kommen«, wird Achilles nach dem nächsten schlimmen Tag sagen, wenn alle großen Führer – Agamemnon, Menelaos, Diomedes und Odysseus – verwundet sind. Und das, nachdem die Gesandten in der vergangenen Nacht schon vor ihm zu Kreuze gekrochen sind, damit er zurückkommt. Achilles wird sich über die Niederlage seiner Freunde, der Argeier und Achäer, freuen, und nur der Tod seines Freundes Patroklos, der jetzt nebenan schnarcht, wird den Männertöter wieder aufs Schlachtfeld treiben.
Patroklos muss also sterben, damit die Geschehnisse nun eine andere Wendung nehmen können.
Ich stehe auf und mache eine Bestandsaufnahme der Dinge, die ich am Leib trage und bei mir habe. Ein Kurzschwert, damit ich mich unter die Soldaten mischen kann, aber ich habe das verdammte Ding nie benutzt und weiß, dass es nicht einmal eine Schneide besitzt. Die Muse hat es mir als Requisit, nicht als Waffe gegeben. Mein wahrer Schutz in den vergangenen neun Jahren waren die leichte Stoßpanzerung – stark genug, um einem Schwertstoß, einem verirrten Speer oder Pfeil standzuhalten, hat man uns in der Scholikerkaserne gesagt, obwohl ich zum Glück nie die Probe aufs Exempel machen musste – und der 50.000-Volt-Taser in einem Ende des Richtmikrofonstabs, den wir alle dabeihaben. Diese Waffe ist dazu gedacht, einen Angreifer so lange zu betäuben, dass wir zu einem QT-Portal fliehen können. Des Weiteren besteht meine Ausrüstung aus den Linsen, die meine Sehkraft verstärken, Filtern, die mein Gehör schärfen, dem gestohlenen, kapuzenartigen Hades-Helm, der mir um die Schultern liegt, dem QT-Medaillon an der Kette um meinen Hals und dem Morpharmband an meinem Handgelenk.
Auf einmal beginnt ein Plan – oder zumindest der Teil eines Plans – in meinem müden Verstand Gestalt anzunehmen.
Ich handle, bevor ich den Mut verlieren kann. Ich setze den Hades-Helm auf, verschwinde aus dem Blickfeld der Sterblichen und der Götter, komme mir vor wie Frodo, Bilbo oder der Gollum, wenn sie den Ring anstecken, der sie alle bindet, und schleiche auf Zehenspitzen aus der Schlafnische, in dem sie Phönix’ Kissen ausgebreitet haben, in Achilles’ Schlafgemach.
Achilles und Patroklos liegen nackt beieinander und schlafen. Die Sklavinnen sind längst fort, und Patroklos’ Arm liegt um die Schultern des Männertöters.
Bei diesem Anblick im matten Licht bleibe ich abrupt stehen. Achilles ist schwul? Das heißt, dieser dämliche, von Schwulen und Lesben besessene Juniorprofessor in meinem Fachbereich hatte Recht – seine schwafeligen Artikel waren zutreffend – all dieses politisch korrekte Geplapper ist wahr gewesen!
Ich schüttle den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Es bedeutet nur, dass ich dreitausend Jahre vom Indiana des einundzwanzigsten Jahrhunderts entfernt bin und nicht weiß, was ich sehe. Diese beiden Männer haben es gerade zwei Stunden lang mit Sklavinnen getrieben und sind dann eingeschlafen, wo sie gerade lagen. Und außerdem, wen interessiert schon Achilles’ heimliches Liebesleben?
Ich aktiviere das Morpharmband und
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