Ilium
Menelaos durchbohren, der vor seinen Kämpfern steht und zusieht, wie die Herolde im Niemandsland vor sich hin palavern. Das heißt, er wird ihn durchbohren, wenn keine griechenfreundliche Gottheit eingreift.
Eine tut es. Mit meinem gesteigerten Sehvermögen sehe ich, wie Athene Laodokos’ Körper verlässt und an Menelaos’ Seite qtet. Die Göttin spielt ein Doppelspiel – sie bringt die Trojaner durch eine List dazu, den Waffenstillstand zu brechen, und sorgt dann eilends dafür, dass Menelaos, einer ihrer Lieblinge, nicht wirklich getötet wird. Von Kopf bis Fuß getarnt, unsichtbar für Freund und Feind (aber nicht für mich), schlägt sie den Pfeil beiseite, wie eine Mutter Fliegen von ihrem schlummernden Kind scheucht. (Ich glaube, ich habe dieses Bild gestohlen, aber es ist schon so lange her, dass ich die Ilias – in einer Übersetzung oder im Original – wirklich gelesen habe, dass ich mir nicht ganz sicher bin.)
Doch trotz ihres schützenden Schlags trifft der abgelenkte Pfeil. Menelaos schreit vor Schmerz auf und bricht zusammen. Der Pfeil ragt aus seinem Bauch, knapp über der Leistengegend. Hat Athene versagt?
Allgemeine Verwirrung bricht aus. Priamos’ Boten fliehen hinter die trojanischen Linien, die achäischen Unterhändler ziehen sich eilends in den Schutz griechischer Schilde zurück. Agamemnon, der den Waffenstillstand zu einer Inspektion seiner aufmarschierten Truppen genutzt hat (vielleicht hat er sie auf diesen Zeitpunkt gelegt, um damit gleich am ersten Tag nach Achilles’ Meuterei seine Führungsrolle zu demonstrieren), kommt herbeigelaufen und sieht, wie sein Bruder sich inmitten einer Schar von Hauptleuten und Leutnants am Boden windet.
Ich richte einen kurzen Stock auf die Szene. Er sieht zwar wie das Offiziersstöckchen eines untergeordneten trojanischen Truppenführers aus, gehört aber nicht dem Hauptmann Echepolos, sondern mir. Jeder von uns Scholikern hat so einen. Der Stock ist in Wirklichkeit ein Taser und ein Rohrrichtmikrofon, das den Ton auf bis zu drei Kilometern Entfernung aufnimmt, verstärkt und in die Hörstöpsel übermittelt, die ich immer trage, wenn ich auf der Ebene von Ilium bin.
Agamemnon hält eine Lobrede auf seinen sterbenden Bruder, die sich gewaschen hat. Ich sehe, dass er Menelaos’ Kopf und Schultern in den Armen hält, und höre, wie er von der schrecklichen Rache spricht, die er – Agamemnon – an den Trojanern üben wird, weil sie den edlen Menelaos ermordet haben; anschließend beklagt er, dass die Achäer – trotz Agamemnons blutiger Rache – nach Menelaos’ Tod den Mut verlieren, den Kampf verloren geben und mit ihren schwarzen Schiffen heimfahren werden. Was hat es schließlich für einen Zweck, Helena wieder zu beschaffen, wenn ihr gehörnter Gatte tot ist? Den stöhnenden Bruder im Arm, spielt Agamemnon den Propheten – »modern lässt deine Gebeine hier die troische Flur bei unvollendetem Werke«. Sehr aufmunternd, das alles. Genau was ein Sterbender hören will.
»Halt, halt«, ächzt Menelaos mit zusammengebissenen Zähnen. »Bring mich nicht so schnell unter die Erde, großer Bruder. Das scharfe Geschoss haftet ja nicht an tödlicher Stelle. Siehst du? Es hat meinen bronzenen Gurt durchschlagen und mich nur in den Rettungsring getroffen, den ich ohnehin loswerden wollte, nicht in die Eier oder den Bauch.«
»Ach so«, sagt Agamemnon und betrachtet stirnrunzelnd die Wunde, wo der Pfeil nur ein kleines Stück weit eingedrungen ist. Seine Stimme klingt fast ein bisschen enttäuscht. Die ganze Lobrede ist jetzt für die Katz, und es klang, als hätte er eine Weile daran gearbeitet.
»Aber der Pfeil ist vergiftet«, keucht Menelaos, als wollte er seinen Bruder aufheitern. Seine roten Haare sind schweißverklebt und mit Gras verfilzt; den goldenen Helm hat er beim Sturz verloren.
Agamemnon erhebt sich und lässt die Schultern und den Kopf seines Bruders so schnell los, dass Menelaos wieder zu Boden gesackt wäre, wenn seine Hauptleute ihn nicht aufgefangen hätten. Der König ruft nach Talthybios, seinem Herold, und befiehlt dem Mann, Machaon zu holen, den Sohn des Asklepios. Machaon ist Agamemnons Arzt und ein verdammt guter obendrein, weil er sein Handwerk angeblich von Chiron gelernt hat, dem freundlichen Kentauren.
Jetzt sieht es hier aus wie auf jedem Schlachtfeld zu jeder Zeit – ein niedergestreckter Mann, der schreit, flucht und weint, als der Schmerz durch den anfänglichen Schock der Verletzung dringt, um ihn versammelt
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