Ilium
aufs Knie niedergesunkene Freunde, hilflos, nutzlos, dann treffen der Arzt und seine Gehilfen ein, geben Anweisungen, ziehen die mit Widerhaken versehene Bronzespitze aus zerreißendem Fleisch, saugen Gift aus und verbinden die Wunde mit sauberen Verbänden, während Menelaos weiterhin schreit wie das sprichwörtliche angestochene Schwein.
Agamemnon überlässt seinen Bruder Machaons Fürsorge und geht davon, um seine Männer zum Kampf anzustacheln, obwohl die Achäer – auch ohne Achilles in ihren Reihen – verkatert, wütend und verdrossen wirken und nicht den Anschein erwecken, als müssten sie besonders angestachelt werden, damit sie kämpfen.
Binnen zwanzig Minuten nach Pandaros’ unklugem Schuss ist der Waffenstillstand vorbei und die Griechen greifen die trojanischen Linien auf einem drei Kilometer breiten Streifen aus Staub und Blut an.
Es wird Zeit, dass ich aus Echepolos’ Körper verschwinde, bevor der arme Kerl eine Lanze in die Stirn kriegt.
Ich habe nur wenige Erinnerungen an mein echtes Leben auf der Erde. Ich weiß nicht mehr, ob ich verheiratet war, ob ich Kinder hatte, wo ich wohnte – nichts als ein paar verschwommene Bilder von einem Arbeitszimmer voller Bücherborde, in dem ich meine Bücher las und meine Vorlesungen vorbereitete –, und auch nicht sehr viel über die Universität in Indiana, an der ich unterrichtete; ich sehe nur noch Bilder von Naturstein- und Ziegelgebäuden auf einer Anhöhe mit herrlichem Blick nach Osten. Eine der Merkwürdigkeiten des Scholikerdaseins besteht darin, dass nach Monaten und Jahren doch einige Bruchstücke nichtschulischer Erinnerungen zurückkehren – vielleicht einer der Gründe dafür, dass die Götter uns nicht so lange leben lassen. Ich bin die älteste Ausnahme.
Aber ich erinnere mich an Seminare und an die Gesichter meiner Studenten, an meine Vorlesungen und einige Diskussionen an einem ovalen Tisch. Ich erinnere mich an eine junge Frau mit gesunder Gesichtsfarbe, die fragte: »Aber warum hat der trojanische Krieg denn so lange gedauert?« Ich weiß auch noch, dass ich versucht war, ihr zu erklären, dass sie in einer Zeit aufgewachsen war, in der alles schnell gehen musste, beim Essen wie im Krieg – McDonald’s und der Golfkrieg, Pizza Hut und der Krieg gegen den Terrorismus –, dass die Griechen und ihre Feinde in den alten Zeiten jedoch ebenso wenig auf die Idee gekommen wären, einen Krieg zu beschleunigen, wie ein gutes Essen hastig in sich hineinzuschaufeln.
Statt die Aufmerksamkeitsspanne meiner Studenten zu überfordern, erklärte ich dem Seminar, dass diese Helden gern in den Kampf gezogen waren – dass eines ihrer Wörter für den Zweikampf charme gewesen war, was dieselbe Wurzel hat wie charo, »sich freuen«. Ich las ihnen eine Szene vor, in der zwei sich gegenüberstehende Krieger als charmei gethosunoi bezeichnet wurden – »die sich am Kampf erfreuen«. Ich erklärte ihnen das griechische Konzept der Aristie – Kampf Mann gegen Mann oder in kleinen Gruppen, wobei der Einzelne seine Tapferkeit unter Beweis stellen kann – und wie wichtig es diesen Menschen der Antike gewesen war; dass sie oftmals sogar die eigentliche Schlacht unterbrachen, damit die Soldaten beider Seiten Zeugen solcher Beispiele der Aristie werden konnten.
»Also, das heißt, Sie meinen …«, stotterte eine Studentin, deren Verstand raste, ohne vom Fleck zu kommen, und deren Gestammel jenen irritierenden Sprach- und Denkdefekt illustrierte, der sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts wie ein Virus unter jungen Menschen ausbreitete, »na ja, dass der Krieg also irgendwie viel eher vorbei gewesen wäre oder so, wenn sie nicht immer wieder wegen dieses arist-wieheißtdasnochmal aufgehört hätten?«
»Genau«, hatte ich mit einem Seufzer gesagt und in der Hoffnung auf Erlösung einen Blick auf die alte Hamilton-Uhr an der Wand geworfen.
Aber nachdem ich die Aristie nun mehr als neun Jahre lang in Aktion gesehen habe, kann ich mit Gewissheit sagen, dass diese sowohl bei den Trojanern als auch bei den Argeiern so beliebten Zweikämpfe tatsächlich einer der Gründe für diese sich hinziehende, endlose, sirupartige Belagerung sind. Und wie selbst der kultivierteste Mittelamerikaner, der zu lange in Frankreich umhergereist ist, verspüre auch ich jetzt eine gewisse Sehnsucht nach McDonald’s – oder in diesem Fall nach einem schnellen Ende des Krieges. Ein paar Bomben, eine kleine Invasion aus der Luft, zack-bumm, das war’s, und ab nach Hause zu
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