Ilium
zufolge – eine Argeier-Lanze in den Schädel bekommen wird, wenn es Athene gelingt, mit Hilfe von Laodokos den Frieden zu brechen.
Tja, Mr. Echepolos kann seinen Namen und seine Identität wiederhaben, bevor es so weit ist.
In Homers Ilias wurde der Waffenstillstand gebrochen, nachdem Aphrodite Paris aus seinem Zweikampf mit Menelaos weggezaubert hatte, aber hier in der Realität dieses trojanischen Krieges hat diese Nichtkonfrontation zwischen Menelaos und Paris schon vor Jahren stattgefunden. Dieser Waffenstillstand ist eine profanere Angelegenheit – einige Sendboten des Königs Priamos haben sich mit einigen achäischen Herolden getroffen, und beide Seiten haben eine abstruse Vereinbarung über Unterbrechungen der Kämpfe für Feste oder Bestattungen und dergleichen ausgearbeitet. Wenn Sie mich fragen, sind die ganzen Unterbrechungen einer der Gründe dafür, dass sich diese Belagerung nun schon fast ein Jahrzehnt hinzieht; die Griechen und Trojaner haben so viele religiöse Feste wie unsere Hindus im 21. Jahrhundert und so viele säkulare Feiertage wie ein amerikanischer Postangestellter. Man fragt sich, wie sie es bei diesen ganzen Festivitäten, den Götteropfern und zehntägigen Totenfeiern überhaupt noch schaffen, sich gegenseitig umzubringen.
Nachdem ich mir gerade erst gelobt habe, gegen den Willen der Götter zu rebellieren (und feststellen musste, dass ich ihm mehr denn je ausgeliefert bin), beschäftigt mich nun die Frage, wie rasch und wie weit die realen Ereignisse in diesem Krieg von den Details in Homers Geschichte abweichen können. Bei früheren Disparitäten – etwa der Episode mit der Sammlung der Heere oder dem Zeitpunkt des abgebrochenen Kampfes zwischen Paris und Menelaos – handelte es sich immer um unwichtige Diskrepanzen, die sich leicht dadurch erklären ließen, dass Homer bestimmte frühere Ereignisse in den kurzen Zeitraum des Gedichts einbeziehen musste, das im zehnten Kriegsjahr angesiedelt ist. Aber was wäre, wenn die Ereignisse wirklich einen anderen Verlauf nähmen? Wenn ich zum Beispiel heute Vormittag zu Agamemnon ginge und dem König diese Lanze (die Lanze des armen, todgeweihten Echepolos natürlich, aber trotzdem eine funktionierende Lanze) ins Herz stieße? Die Götter sind zu vielem fähig, aber tote Sterbliche zum Leben erwecken können sie nicht. (Und tote Götter, so oxymoronisch das klingt, ebenso wenig.)
Wer b ist du, Hockenberry, dass du dem Schicksal einen Strich durch die Rechnung machen und dem Willen der Götter trotzen willst?, erkundigt sich eine feige, professorale kleine Hosenscheißerstimme, auf die ich fast mein ganzes echtes Leben lang gehört habe.
Ich bin ich, Thomas Hockenberry, kommt die Antwort meines heutigen Ichs, so fragmentarisch es sein mag, und momentan hab ich die Schnauze voll von diesen machtbesessenen Unruhestiftern, die sich als Götter bezeichnen.
In meiner Rolle als Spion statt Scholiker bin ich jetzt so nah herangekommen, dass ich den Dialog zwischen Athene – zu Laodokos gemorpht – und diesem Trottel (aber guten Bogenschützen) Pandaros hören kann. Athene/Laodokos appelliert – von einem trojanischen Krieger zum anderen – an die Eitelkeit des Idioten, erzählt ihm, Prinz Paris werde ihn mit Geschenken überhäufen, wenn er Menelaos töte, und vergleicht ihn sogar mit dem größten Bogenschützen – Apollo –, falls ihm dieser Schuss gelinge.
Pandaros fällt voll und ganz darauf herein – »so beschwatzte Athene dem törichten Manne die Sinne«, beschrieb ein hervorragender Übersetzer diesen Augenblick – und versteckt sich hinter den Schilden einiger Kumpels, während er seinen langen Bogen spannt und den richtigen Pfeil für den Anschlag auswählt. Jahrhundertelang haben Scholiker – Ilias- Kenner – darüber diskutiert, ob die Griechen und Trojaner ihre Pfeile mit Gift getränkt haben oder nicht. Die meisten Scholiker, darunter auch ich, haben das verneint – ein solches Verhalten schien den hohen Maßstäben dieser Helden in punkto Kampfesehre einfach nicht zu entsprechen. Wir haben uns geirrt. Manchmal verwenden sie Gift. Und zwar ein tödliches, schnell wirkendes Gift. Das erklärt, weshalb so viele der in der Ilias aufgezählten Wunden so rasch zum Tode führten.
Pandaros lässt den Pfeil von der Sehne schnellen. Es ist ein erstklassiger Schuss. Ich verfolge den Pfeil, der einen mehr als hundert Meter weiten Bogen beschreibt und dann direkt auf Agamemnons rothaarigen Bruder zufliegt. Der Schaft wird
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