Ilium
für einen Feigling halten. Zuvor hatte ich mich, vor den Augen der Sterblichen getarnt, zu Athene hin vorgearbeitet, die ich hinter den Linien der Achäer sah – und zu der sich bald darauf Hera gesellte, die eine für die Menschen ebenso unsichtbar wie die andere –, aber da der Kampf zu schnell ausgebrochen und zu stark eskaliert war, hatte ich mich nach Echepolos’ Tod von der Frontlinie zurückgezogen und darauf vertraut, dass ich durch mein gesteigertes Sehvermögen und das Rohrrichtmikrofon schon auf dem Laufenden bleiben würde.
Auf einmal friert alles ein. Die Luft wird dicker. Speere bleiben in der Luft stecken, Blut hört auf zu fließen. Während jedes Geräusch verstummt und jede Bewegung verebbt, wird Männern, die nur noch Sekunden vom Tod trennen, ein Aufschub zuteil, von dem sie nie etwas erfahren werden. Die Götter spielen wieder einmal mit der Zeit.
Apollo kommt als Erster, sein Streitwagen qtet nicht weit von Hektor entfernt ins Dasein. Dann taucht der Kriegsgott Ares aus dem Nichts auf; er unterhält sich eine Minute lang zornig mit Athene und Hera, fliegt anschließend mit seinem Streitwagen über die Gefechtslinien hinweg und landet in Apollos Nähe. Aphrodite gesellt sich zu ihnen; sie wirft nur einen kurzen, verstohlenen Blick in meine Richtung – dorthin, wo ich so tue, als wäre ich ebenso erstarrt wie die anderen Sterblichen –‚ dann unterhält sie sich lächelnd mit ihren beiden trojanerfreundlichen Verbündeten Ares und Apollo. Ich beobachte die Göttin aus dem Augenwinkel, wie sie dort steht und gleich einem George Patton mit großen Brüsten gestikulierend aufs Schlachtfeld deutet.
Die Götter sind hier, um zu kämpfen.
Apollo hebt die Hand, der Ton setzt abrupt ein, die Zeit läuft wieder an wie ein Tsunami aus Staub und Bewegung, und nun geht das Morden erst richtig los.
10
Paris-Krater
Ada, Harman und Hannah warteten die zwei Tage, die im Allgemeinen als geziemender Mindestzeitraum nach einem Besuch in der Klinik galten, und faxten dann nach Paris-Krater, um Daeman zu suchen. Dort war es schon spät, dunkel und kalt, und außerdem regnete es, wie sie feststellten, als sie unter dem Dach des Garlion-Faxknotens hervortraten. Harman besorgte ihnen eine geschlossene Kalesche, und ein Voynix zog sie an einem ausgetrockneten Flussbett voller weißer Schädel entlang nach Norden, vorbei an Kilometer um Kilometer eingestürzter Gebäude.
»Ich war noch nie in Paris-Krater«, sagte Hannah. Die junge Frau, die knapp zwei Monate vor ihrem Ersten Zwanziger stand, mochte keine Großstädte. Mit rund 25.000 Teilzeiteinwohnern war PK einer der bevölkerungsreichsten Faxknoten der Erde.
»Das ist einer der Gründe, weshalb ich uns zum Garlion-Knoten gefaxt habe statt zu einem Port namens Invalidenhotel, der näher bei Daemans Wohnung am Kraterrand liegt«, sagte Ada. »Alles an dieser Stadt ist uralt. Es lohnt sich, sich in Ruhe umzuschauen.«
Hannah nickte, aber mit skeptischer Miene. Die zahllosen Reihen von Gebäuden aus Stein und Stahl, meist mit glänzendem Ewigplas überzogen, wirkten leer und dunkel und sahen im Regen auf billige Weise glatt aus. Servitoren und Leuchtkugeln schwebten in den dunklen Straßen zielstrebig hierhin und dort h in, Voynixe standen schweigend und reglos an Ecken, doch es waren nur sehr wenige Menschen zu sehen. Aber wie Harman erklärte, war es schließlich auch schon nach zehn Uhr abends. Selbst eine so kosmopolitische Stadt wie Paris-Krater musste irgendwann schlafen.
»Das da ist interessant«, sagte Hannah und deutete auf das Gebilde, das sich dreihundert Meter hoch über die Stadt erhob.
Harman nickte. »Frühes Untergegangenes Zeitalter. Manche sagen, es sei so alt wie Paris-Krater, vielleicht sogar so alt wie die Stadt, die vor dem Krater hier war. Es ist ein Symbol der Stadt und der Menschen, die sie vor langer Zeit erbaut haben.«
»Interessant«, wiederholte Hannah. Die dreihundert Meter hohe, primitive Darstellung einer nackten Frau schien aus einem durchsichtigen Polymerisat zu bestehen. Der Kopf verschwand manchmal in tief hängenden Wolken und wurde dann wieder für kurze Zeit sichtbar, und Hannah sah, dass der einzige Gesichtszug ein klaffendes Grinsen zwischen roten Lippen war. Fünfzehn Meter lange, schwarze Schraubenfedern hingen wie Locken spiralförmig von dem kugelrunden Kopf. Die Beine waren weit gespreizt, die Füße hinter dunklen Gebäuden im Westen verborgen, aber die wuchtigen Schenkel waren so ausladend wie Ardis
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