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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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intelligenten Lebewesen in der Jupiteratmosphäre aufzunehmen, von den ersten Nachmenschen mit ausgeklügelten, vollsensorischen Bändern der menschlichen Geschichte, Kultur und Kunst programmiert worden. Die Rubikon-Pandemie lag natürlich bereits hinter ihnen, ebenso wie der Große Rückzug zuvor, aber es hatte immer noch einige Hoffnung bestanden, dass man die Erinnerungen und die Aufzeichnungen über die menschliche Vergangenheit retten konnte, selbst wenn die letzten 9114 Altmenschen auf der Erde durch das letzte Fax nicht gerettet werden konnten. In den Jahrhunderten seit dem Abbruch des Kontakts zur Erde waren menschliche Kunst, Literatur und Geschichte zu den Hobbys Tausender Hochvakuum- und Mond-Moravecs geworden. Mahnmuts früherer Partner, Urtzweil – der vor achtzehn Jahren bei einem Eisbruch unter dem europaschen Eiskrater Tyre Macula zerstört worden war –, hatte sich für die King-James-Bibel begeistert. Ein Exemplar dieser Bibel lag immer noch in der winzigen Nische unter Mahnmuts voll beladenem Arbeitstisch, neben der mit Gel isolierten Lavalampe, die Urtzweil ihm geschenkt hatte.
    Während Mahnmut den von Filtern gedämpften grellen Lichtschein der vorderen Fusionstriebwerke auf seinem Bildschirm betrachtete, versuchte er, sein Bild des historischen Marcel Proust – eines Mannes, der seine letzten drei Lebensjahre in seinem berühmten, mit Kork ausgekleideten Zimmer im Bett verbracht hatte, umgeben von seinen stetig eintreffenden Druckfahnen, alten Manuskripten und Flaschen mit süchtig machenden Tränken, nur hin und wieder von einem Strichjungen besucht oder von Arbeitern, die eines der ersten Operntelefone in Paris installierten – mit dem Marcel-Erzähler jenes anstrengenden Meisterwerks der Wahrnehmung in Verbindung zu bringen, das Auf der Suche nach der verlorenen Zeit war. Mahnmut hatte ein sagenhaftes Gedächtnis – er konnte den Stadtplan vom Paris des Jahres 1921 aufrufen, konnte jedes Proust-Porträt herunterladen (Foto, Zeichnung oder Gemälde), konnte sich den Vermeer ansehen, bei dessen Anblick Prousts Figur in Ohnmacht gefallen war, konnte jede Figur in den Büchern mit jedem realen Menschen vergleichen, den Proust gekannt hatte –, aber nichts von alledem verhalf ihm zu einem besseren Verständnis des Werks. Er wusste, dass die menschliche Kunst die Menschen schlichtweg transzendierte.
    Vier geheime Wege zur Wahrheit des Rätsels des Lebens, hatte Orphu gesagt. Der erste – das obsessive Interesse an Adel, Aristokratie und den oberen Rängen der Gesellschaft, das Prousts Figuren an den Tag legten – war offensichtlich eine Sackgasse. Im Gegensatz zu Prousts Protagonisten musste sich Mahnmut nicht durch dreitausend Seiten über Abendgesellschaften kämpfen, um das zu erkennen.
    Der zweite – der Gedanke, die Liebe sei der Schlüssel zum Rätsel des Lebens – faszinierte Mahnmut. Zweifellos hatte Proust ebenso wie Shakespeare, aber auf vollständig andere Weise versucht, alle Facetten der menschlichen Liebe zu ergründen – die heterosexuelle, homosexuelle, bisexuelle, familiäre, kollegiale und mehreren Menschen geltende Liebe, ebenso wie die Liebe zu Orten, Dingen und dem Leben selbst. Und Mahnmut musste Orphus Analyse zustimmen: Proust hatte die Liebe als wahren Weg zum tieferen Verständnis verworfen.
    Der dritte Weg war für Marcel die Kunst gewesen – die Kunst und die Musik. Er hatte Marcel zwar zur Schönheit geführt, aber nicht zur Wahrheit.
    Welches ist der vierte Weg? Und wenn er Prousts Helden nicht an ihr Ziel geführt hat, was war dann der den Figuren unbekannte, aber von Proust selbst vielleicht erkannte wahre Weg hinter dem eigentlichen Text?
    Um das herauszufinden, brauchte Mahnmut nur Kontakt zu Orphu aufzunehmen. Die beiden Freunde hatten an diesem letzten Tag des Bremsmanövers sehr wenig miteinander kommuniziert, vielleicht weil sie so in ihre eigenen Gedanken vertieft waren. Er wird es mir später sagen, dachte Mahnmut. Aber vielleicht sehe ich es bis dahin selbst… und finde heraus, ob da eine Verbindung zu Shakespeares Untersuchung dessen besteht, was jenseits der Liebe liegt. Am Ende der Sonette hatte der Barde jedenfalls die geistige, romantische und körperliche Liebe gänzlich verworfen.
    Die Fusionstriebwerke erloschen. Das schlagartige Wegfallen der hohen Andruckbelastung sowie des Lärms und der Vibrationen, die durch die Hülle übertragen wurden, war beinahe erschreckend.
    Sofort wurden die kugelförmigen Triebwerke abgeworfen. Kleine

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