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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Ada merkte, dass sie aus Angst, ihr gemeinsames Gewicht könnte den Zylinder, das Kabel, die ganze Brücke zum Einsturz bringen, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte und ihr Gewicht durch reine Willenskraft zu verringern suchte. Wieder merkte sie, dass Savi sie beobachtete. Diesmal errötete Ada nicht, sondern schaute mit gerunzelter Stirn zurück. Sie hatte den prüfenden Blick der alten Frau satt.
    Alle vier blieben einen Moment lang erschrocken stehen. Es schien, als wären sie in einen Versammlungssaal voller Menschen gekommen – Menschen, die überall an den Wänden des Raumes standen, Männer und Frauen in merkwürdiger Tracht, Menschen, die an Schreibtischen saßen und an Schalttafeln standen, Menschen, die sich nicht bewegten und sich auch nicht zu den Neuankömmlingen umdrehten.
    »Sie sind nicht echt«, sagte Daeman, während er zum nächsten Mann ging – er trug einen staubigen blauen Anzug und ein Stück Stoff am Hals – und dessen Gesicht berührte.
    Die fünf gingen von einer Gestalt zur anderen, betrachteten die Männer und Frauen mit ihrer seltsamen Kleidung, die Menschen mit den fremdartigen Frisuren und dem ungewöhnlichen persönlichen Zierat – Tätowierungen, sonderbare Schmuckstücke, gefärbte Haare und gefärbte Haut.
    »Ich habe gelesen, dass Servitoren früher einmal menschliche Gestalt hatten …«, begann Harman.
    »Nein«, sagte Savi. »Das sind keine Roboter. Nur Gliederpuppen.«
    »Was?«, sagte Daeman.
    Savi erklärte das Wort.
    »Weißt du, wen sie darstellen sollen?«, fragte Hannah. »Oder weshalb sie hier sind?«
    »Nein«, sagte Savi. Sie blieb zurück, während die anderen sich alles genau ansahen.
    Am anderen Ende des Raums saß die Figur eines Mannes in einer gläsernen Nische, als hätte sie dort einen Ehrenplatz. Sie thronte auf einem reich verzierten, mit Leder bezogenen Holzstuhl. Trotz ihrer sitzenden Haltung sah man, dass sie kleiner war als die meisten anderen männlichen Gliederpuppen im Saal. Die Gestalt trug einen gelbbraunen Kittel, der wie ein kurzes, gegürtetes Gewand aus grober Baumwolle oder Wolle aussah. Ihre Füße steckten in Sandalen. Der kleine Mann hätte komisch wirken können, aber seine Gesichtszüge – kurzes, lockiges graues Haar, Adlernase und grimmige graue Augen, die kühn unter dicken Brauen hervorschauten – waren so ausdrucksvoll, dass Ada sich dabei ertappte, wie sie sich der Puppe wachsam näherte. Die muskulösen Unterarme des Mannes trugen so viele Narben, die kurzen, dicken Finger lagen locker gekrümmt, aber mit so viel Kraft auf den hölzernen Armlehnen des Klappstuhls – alles an der geschnitzten Gestalt machte einen Eindruck von solch gespannter Willens- und Körperkraft gleichermaßen –, dass Ada zwei Meter vor ihm stehen blieb. Der Mann war sichtlich älter, als Menschen in diesen Zeiten aussehen wollten – irgendwo zwischen Harmans Fünftem Zwanziger und Savis Alter. Im Ausschnitt seines Kittels sah Ada das ergrauende Haar auf seiner breiten, gebräunten Brust.
    Daeman kam mit schnellen Schritten nach vorn. »Ich kenne diesen Mann«, sagte er und zeigte auf die Gestalt. »Ich habe ihn schon gesehen.«
    »Im Turin-Drama«, sagte Hannah.
    »Ja, ja«, sagte Daeman und schnippte in dem Bemühen, sich zu erinnern, mit den Fingern. »Er heißt…«
    »Odysseus«, sagte der Mann auf dem Stuhl. Er stand auf und trat einen Schritt auf den verblüfften Daeman zu. »Odysseus, Sohn des Laertes.«
     

17
Mars
    »Sie stabilisiert sich«, sagte Mahnmut über die Festleitung zu Orphu. »Rollrate nur noch ungefähr eine Umdrehung alle sechs Sekunden. Stampf- und Gierbewegung fast gleich null.«
    »Ich versuche, das Rollen auszugleichen«, erklärte Orphu. »Sag mir, wenn du die Polkappe im Fadenkreuz hast.«
    »Okay. Nein – sie driftet weg. Verdammter Schrott.« Mahnmut versuchte, durch einen Blizzard aus herumpurzelnden Trümmerstücken und noch immer leuchtendes Plasma hindurch die Markierung im Kamerabild mit dem verschwommenen weißen Fleck der marsianischen Polkappe zur Deckung zu bringen.
    »Ja«, sagte Orphu aus den Laderaum, »ich bin Schrott.«
    »Ich habe nicht von dir gesprochen.«
    »Ich weiß. Aber ich bin trotzdem Schrott. Ich gäbe die Hälfte meiner Proust-Bibliothek für ein einziges meiner sechs Augen.«
    »Wir hängen dich an irgendeine optische Leitung«, sagte Mahnmut. »Zum Teufel. Wir taumeln wieder.«
    »Lass sie taumeln, bis wir kurz davor sind, in die Atmosphäre einzutreten«, sagte Orphu. »Sparen wir

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