Illuminatus 1 - Das Auge in der Pyramide
Aufseherin ab und blicke aus dem vergitterten Fenster hinauf zu den Sternen, und die Abstände zwischen ihnen scheinen grösser als je zuvor. Grösser und leerer. Tief in mir erlebe ich jetzt eine unendliche Leere und sie wird nie wieder gefüllt werden können. Wenn ein Baum mit den Wurzeln herausgerissen wird, muss die Erde sich so fühlen wie ich mich jetzt. Die Erde muss lautlos schreien, wie ich lautlos schreie.) Aber sie verstand die symbolische Bedeutung der blutgetränkten Taschentücher; wie auch Simon es versteht.
Tatsächlich hatte Simon eine Erziehung genossen, die man nicht anders als funky bezeichnen kann. Mensch! Ich meine, wenn beide Elternteile Anarchisten sind, dann kann das Chicagoer Schulsystem in deinem Kopf eigentlich nur Unheil anrichten. Man stelle sich mich 1956 in einem Klassenzimmer vor, wo Eisenhowers Moby DickGesicht an der einen und Nixons Captain Ahab-Blick an der anderen Wand hängen, und zwischen beiden, vor dem unvermeidlichen amerikanischen Fetzen Stoff, steht Fräulein Doris Day, oder ihre ältere Schwester, und erzählt der Klasse, jeder solle ein Merkblatt mit nach Hause nehmen, das den Eltern weiss machen soll, wie wichtig es für sie sei, an den Wahlen teilzunehmen.
«Meine Eltern wählen nicht», sage ich.
«Nun, dieses Merkblatt wird ihnen erklären, warum sie es tun sollten», sagt sie zu mir mit dem authentischen Doris Day Sunshine Kansas Cornball-Lächeln. Das Schuljahr hat gerade erst begonnen und von mir hat sie noch nichts gehört.
«Das glaube ich nicht», sage ich höflich. «Sie glauben nicht, dass es irgendeinen Unterschied macht, ob Eisenhower oder Stevenson im Weissen Haus wohnen. Sie sagen, die Befehle kommen trotzdem von der Wall Street.»
Das wirkt wie ein Donnerschlag. Der ganze schöne Sonnenschein verflüchtigt sich. Auf so etwas hat man sie in der Schule, in der man alle diese Doris -Day-Replikas fabriziert, nicht vorbereitet. Das Wissen der Väter wird in Frage stellt. Sie öffnet den Mund und schliesst ihn wieder und öffnet ihn und schliesst ihn und am Ende nimmt sie solch einen tiefen Atemzug, dass jeder Knabe in der Klasse (wir befinden uns alle am Scheitelpunkt der Pubertät) beim Anblick ihres Busens, wie er sich hebt und senkt, 'nen Steifen kriegt. Ich meine, jeder betet in diesem Moment (ausser mir natürlich, denn ich bin Atheist), dass er nicht aufgerufen wird; würde es nicht Aufsehen erregen, so würden sie ihren Ständer jetzt mit dem Geographiebuch runterknüppeln. «Das ist das Wunderbare in diesem Land», bringt sie schliesslich heraus, «sogar Leute mit einer Meinung wie dieser körnen sagen was sie wollen, ohne ins Gefängnis gehen zu müssen.» «Bei Ihnen stimmt's wohl nicht ganz im Kopf», sage ich. «Daddy ist schon so oft drin und wieder draussen gewesen, dass sie speziell für ihn 'ne Drehtür einbauen sollten. Mutter auch. Sie sollten sich in dieser Stadt mal mit subversiven Flugblättern auf die Strasse trauen und sehen, was passiert.»
Nach der Schule prügelt mir natürlich so 'ne Bande von Patrioten, im Kräfteverhältnis sieben zu eins, die Seele aus dem Leib und zwingt mich, ihren blau-weiss-roten Totem zu küssen. Zuhause ist's dann auch nicht besser. Mutter ist eine Anarcho-pazifistin, Tolstoi undsoweiter, und sie hätte am liebsten, wenn ich sagen würde, ich hätte nicht zurückgeschlagen. Daddy ist ein Wobbly und will sicher sein, dass ich wenigstens ein paar von ihnen so zusetzte, wie sie mir zusetzten. Anschliessend schreien sie mich eine halbe Stunde lang an, sich selbst schreien sie dann noch zwei Stunden an. Bakunin sagte dies, Kropotkin sagte das und Ghandi sagte wieder was anderes und Martin Luther King ist der Erlöser Amerikas und Martin Luther King ist ein gottverdammter Narr, der seinem Volk 'ne Opium-Utopie andreht und all diesen Scheiss. Geht mal runter zur Wobbly Hall oder zum Solidarität-Buchladen und Ihr werdet immer noch dieselben Debatten anhören müssen, immer wieder und wieder, ohne Ende.
Die natürliche Folge davon ist, dass ich mich schon bald in der Wall Street rumtreibe und Dope rauche und im Handumdrehen bin ich das jüngste lebende Mitglied dessen, was sie Beat Generation nennen. Was mein Verhältnis zu den Schulautoritäten nicht unbedingt bessern hilft, aber wenigstens fühle ich mich nach diesem ganzen Patriotismus und Anarchismus doch erheblich erleichtert. Als ich siebzehn wurde und man Kennedy umlegte und das Land anfängt, aus den Nähten zu platzen, sind wir keine Beatniks mehr.
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