Illusion - das Zeichen der Nacht
alles, was der Mensch sich ausgedacht hat. Wenn du nicht von diesen Mauern geschützt würdest, hättest du die Legende über das Buch des Lebens und das Buch des Todes, die du mir erzählt hast, schon vergessen.«
»Ich bin kein gewöhnlicher Mensch, Heru«, widersprach Jana stolz. »Ich bin eine Agmar-Prinzessin. Ich habe meinen eigenen magischen Schutzschild.«
»Der wird nicht ausreichen. Hör mir jetzt gut zu, Jana, und tu bitte, was ich dir sage. Ganz egal, was passiert, bleib im Palast, nur hier bist du sicher. Corvino und Nieve suchen schon nach dem Nosferatu. Die beiden haben viel mehr Chancen als du, ihn aufzuhalten.«
Jana sah dem Wächter in die Augen. »Und wie wollen sie das anstellen?«, fragte sie sanft. »Indem sie ihn töten? Indem sie Alex töten?«
»Wenn es sein muss, ja. Aber nur wenn es wirklich nicht anders geht.«
»Und das findest du richtig, nicht wahr?« Jana war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Schließlich hast du jahrhundertelang gegen uns Medu gekämpft, gegen alles, was wir verkörpern. Und der Nosferatu hat bald erreicht, was euch Wächtern in tausend Schlachten nicht gelungen ist …«
»Ja.« Heru presste die Kiefer zusammen. »Deswegen muss man ihn stoppen. Und deswegen müssen wir das übernehmen.«
Jana betrachtete stumm das trübe Kanalwasser und die wenigen Fassaden dahinter, die noch aufrecht standen und zusehends von der magischen Seuche zersetzt wurden, bis sie nicht mehr wiederzuerkennen waren.
»Eins verstehe ich nicht«, sagte sie schließlich. »Du bist nicht wie Nieve und Corvino, du … du hast dich nach den Ereignissen in der heiligen Höhle nicht verändert. Du wolltest nie Frieden mit uns Medu. Du hast dich in die neue Situation gefügt, aber es ist offensichtlich, dass du nicht damit klarkommst.«
»So war es am Anfang.« Heru schloss für einen Moment die Augen. »Ich habe deinen Bruder für das gehasst, was er mir angetan hat. Diese Wunde … sie hat mich so angewidert. Ich hätte schreien können vor Wut, ich fühlte mich als Verlierer. Da habe ich einen Fehler begangen.«
Nachdenklich strich er mit der rechten Hand über den Satinhandschuh, in dem seine linke steckte. Mit glasigen Augen blickte er zum Kamin, als sähe er die Flammen eines nicht vorhandenen Feuers.
»Argo hat mir erzählt, was er vorhatte«, sprach Heru weiter. »Er wollte mich überreden mitzumachen. Ich war vernünftig genug, Nein zu sagen, aber ich habe nicht einmal Nieve oder Corvino von seinem Plan erzählt. Ich beschloss – wie soll ich sagen? Ich beschloss, neutral zu bleiben. Ich dachte, es wäre gar nicht so schlecht, wenn Argo sein Ziel erreicht.«
»Sein Ziel?« Jana versuchte, im dämmrigen Licht Herus Blick auszumachen. »Du weißt, was er vorhatte?«
Der Wächter nickte. »Er sagte mir, er wolle Alex auf den Weg des Letzten zurückbringen. Im Grunde genommen hat er genau das getan. Du hast es eben selbst gesagt: Was der Nosferatu macht, ist das, was eigentlich der letzte Wächter hätte tun sollen.«
»Die Symbole und alles andere zerstören, was sich die Menschen ausgedacht haben. Aber Venedig ist nur eine Stadt von vielen Tausenden. Er kann unmöglich …«
»Doch, Jana. Der Virus wird auf andere Orte überspringen, wahrscheinlich hat er das bereits getan. Du siehst doch mit eigenen Augen, wie schnell er sich ausbreitet. Sogar hier drin, obwohl dieses Gebäude geschützt ist.«
Jana brauchte sich nicht umzusehen, um sich davon zu überzeugen, dass Heru die Wahrheit sagte. Ihre Augen konnten sich nicht von ihm losreißen. Sie musste alles erfahren, was er wusste. Sie brauchte Antworten. »Wenn du beschlossen hast, neutral zu bleiben, warum bist du dann hier und versuchst, mir zu helfen? Oder willst du verhindern, dass ich den Palast verlasse, weil du befürchtest, ich könnte die ganze Sache stoppen?«
Herus Miene verfinsterte sich. »Ich habe einen Fehler gemacht, das habe ich ja gesagt. Der Kampf mit David hat mich völlig aus dem Gleis geworfen, ich konnte den Gedanken, für immer mit dieser Wunde leben zu müssen, nicht ertragen. Aber mit der Zeit habe ich mich an sie gewöhnt. Sie hat mich verändert, Jana. Du hast ja vorhin gesehen, wie wunderschön sie ist. Seit sie in meinem Leben ist, habe ich mich vielen Dingen geöffnet, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gibt: der Musik, der Schönheit eines Bildes oder sogar eines simplen Papierschiffchens … Jetzt sehe ich die Welt mit anderen Augen. Ich kann mich anderen
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