Illusion - das Zeichen der Nacht
ihr Blick auf den grün-schwarzen Schal, den sie dort sorgfältig zusammengefaltet hingelegt hatte. Mit entschlossenen Bewegungen öffnete sie ihn, bis die kleine Kugel vor ihr lag. Sie war immer noch ein wenig rußig.
Jana zog die Nachttischschublade auf und griff nach einem Päckchen Papiertaschentücher. Sie zog eins heraus, rieb damit sanft das Auge ab. Je gründlicher sie den Ruß abwischte, desto mehr sah es wie ein echtes Auge aus, weiß mit einem milchigen Glanz und einem goldenen, durchscheinenden Ring um einen schwarzen Punkt herum, der sich zu weiten begann, als sie sich darüberbeugte.
Die Entscheidung war gefallen. Sie wollte nicht länger darüber nachdenken, sonst würde sie es sich vielleicht anders überlegen. Also schloss sie die Augen, machte den Mund auf und steckte sich die widerliche Kugel in den Mund.
Das Auge schmeckte nach Stein, nach trockenem, von der Sonne aufgewärmtem Stein. Bevor Jana es hinunterschlucken konnte, löste es sich in ihrem Mund auf, der sich plötzlich anfühlte, als wäre er voller Sand. Jana schloss die Augen und konzentrierte sich, aber nichts geschah. Auf der Zunge spürte sie immer noch dieselben Krümel, ein eigenwilliges Pulver, das ihr, als sie sich aufs Bett legte, durch die Kehle rieselte und sie zwang, sich wieder aufzusetzen und zu husten.
Mit dem ersten Husten stieß sie eine Wolke feine graue Asche aus, die sich in einen Schmetterling aus Staub verwandelte und einen Moment lang vor ihren Augen flatterte. Jana verfolgte den leichten, sonderbaren Flug des Insekts. Auf einmal fühlte sie sich eigenartig aufgekratzt. Langsam hob sie einen Finger und führte ihn durch die Luft, bis sie den körperlosen Schmetterling berührte, der sofort in Myriaden von feinen grauen Partikeln zerbarst. Dieser Aschewirbel umhüllte sie mehrere Sekunden, um sich dann zu einem dunklen, lebendigen Band aus dichtem, festem Staub zusammenzuziehen. Es sah aus wie eine Schlange, die um ihren Körper kreiste und dabei spiralförmig immer weiter nach oben stieg, aber ohne sie zu berühren. Jana konnte das metallische Rasseln ihrer Schuppen hören, während sie um sie herumwirbelte. Gleich würde sie den Kopf des Reptils zu sehen bekommen, sein Klappern auf der Höhe ihres eigenen Kopfes …
Doch dazu kam es nicht. Das Staubband löste sich langsam wieder auf und das Klappern wurde immer leiser. Erschöpft ließ Jana sich aufs Bett sinken. Die Anspannung, die sie überfallen hatte, als sie sich von der Schlange gefangen fühlte, war jäh gewichen und ihre Muskeln waren ganz schlaff. Müdigkeit überfiel ihr erschöpftes Gehirn und vernebelte all ihre Befürchtungen und Hoffnungen, eine nach der anderen. Das Rasseln der Schuppen war in ein fernes Geräusch übergegangen, das Rauschen von mächtigem, langsam dahinfließendem Wasser.
Ein Fluss.
Als Jana die Augen aufmachte, wurde sie von goldenem Licht geblendet und musste sie gleich wieder zukneifen. Jetzt hörte sich das Rauschen des Wassers ganz nah an und sie begriff, dass sie mitten auf diesem Fluss schwamm, bequem in einem Boot sitzend. Erneut machte sie die Augen auf, diesmal vorsichtiger. Vor ihr stand Argo breitbeinig an Deck seines alten Kahns, die Augen in die Ferne gerichtet, während der Wind seine verkohlten Flügel zerzauste.
»Wo bin ich hier? Wo bringst du mich hin?«, fragte Jana. Sie war allerdings nicht sicher, ob ihre Stimme überhaupt zu hören war.
Der Blick des Wächters löste sich vom Horizont, um sich auf ihr Gesicht zu richten. »Dieser Fluss hier ist der Koptos. Wir sind auf dem Weg zum alten Thot-Tempel, wo sich das Buch der Schöpfung befindet. Du wolltest es sehen … und ich werde es dir zeigen.«
Eine Zeit lang glitten sie stumm auf dem golden glitzernden Wasser dahin. Jana ließ die magische Ruhe dieser Landschaft auf sich wirken. Die Flussufer waren grüne Bänder voller Palmen, friedlich und reglos. Hier hatte sich wahrscheinlich seit Jahrhunderten nichts verändert. Oder vielleicht hatte Argo sie an einen Ort jenseits von Zeit und Raum geführt, wo alles möglich war.
Die Anlage tauchte am linken Ufer auf und beeindruckte sie sofort: eine große freie Fläche, eine Freitreppe und ein Altar, flankiert von langen Reihen haushoher Säulen.
Hinter dem Altar erhob sich der Tempel, dessen Mauern, noch höher als die Säulen darum herum, über und über mit Hieroglyphen bedeckt waren.
Das Boot glitt sanft aufs Ufer zu, bis es auf eine Sandbank auflief. Argo sprang an Land und forderte sie auf, das
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