Illusion - das Zeichen der Nacht
sie hatte einfach keine Lust. Nach ein paar Sekunden ließ sie die Hand fallen. Nieve stand noch wartend vor der Tür, aber nicht mehr lange. Bald waren ihre Schritte zu hören, wie sie sich auf dem gefliesten Flurboden in Richtung Treppe entfernten.
Mit einem Seufzer kehrte Jana zu ihrem Stuhl am Fenster zurück. Sie hatte wirklich keinen Appetit. Eine Weile hatte sie das Internet nach Medu-Legenden durchkämmt, doch ohne viel Erfolg. Die Klane hatten nach wie vor Bedenken, ihr überliefertes Wissen über die neuen Medien zugänglich zu machen. Es gab weder Medu-Blogs noch soziale Netzwerke. Niemand hatte sie verboten, aber es schien auch niemand daran interessiert, welche einzurichten. Seit die Magie nicht mehr allein den Medu vorbehalten war, waren sie ganz besonders wachsam, was ihre Traditionen betraf. Zumindest die gehörten ihnen und niemand konnte sie zwingen, sie in der Öffentlichkeit auszubreiten. Die Menschen hatten keine Ahnung von ihren Ritualen, ihren Zaubern, ihren alten, anrührenden Legenden. Und es war auch besser, wenn das so blieb.
Deshalb wunderte es Jana nicht, dass sie keine brauchbaren Treffer erzielte, als sie »Buch der Schöpfung« in die Suchmaschine eingab. Sie war sogar erleichtert. Wenn ihre Suche etwas ergeben hätte, wäre sie misstrauisch geworden.
Jetzt waren die Gondeln auf dem Kanal nur noch lange dunkle Silhouetten, trotz der Laterne, die bei manchen am Heck hing und das Gesicht des Gondoliere erhellte. Bei den Vaporettos hingegen hatte man die kalten weißen Neonröhren eingeschaltet. Auf der anderen Seite des Kanals wurden die Fassaden der Hotels durch einzelne hell erleuchtete Fenster belebt.
Jana entschied sich, keine Lampe anzuknipsen. In gewisser Weise war sie froh über die Dunkelheit. Bevor ihre Welt zusammengebrochen war, als sie mit ihrem Bruder David in der alten Villa ihrer Eltern noch magische Tattoos entwarf, hatte sich der wichtigste Teil ihres Lebens in der Nacht abgespielt. Nach dieser Zeit sehnte sie sich zurück.
Durch den verzogenen Fensterrahmen zwängte sich ein eisiger Luftzug. Jana stand auf, um sich eine Jacke zu holen. Im Dunkeln tastete sie die verschiedenen Kleidungsstücke ab, die in ihrem Schrank hingen, bis sie die alte Wolljacke fand, die sie suchte. Während sie sie zuknöpfte, wanderten ihre Augen einmal mehr zu ihrem Handy, und noch bevor sie darüber nachgedacht hatte, wählte sie bereits Alex’ Nummer.
Diesmal antwortete ihr nicht die Mailbox. Es war besetzt.
Aus ihrer Brust stieg langsam ein Kloß in ihren Hals hoch. Ein Kloß aus Enttäuschung, Verunsicherung und viel zu lange unterdrückten Tränen. Als er oben ankam, machte er sich in einem verzweifelten Schluchzen Luft, das etwas Wildes hatte, wie bei einem Tier, das vor Schmerz aufheult. Tränen brannten ihr in den Augen und auf den Wangen. Sie flossen unkontrolliert, wie sie es nicht mehr getan hatten, seit sie klein war. Sie schienen von weit her zu kommen, aus dem tiefsten Grund ihrer Seele, wie aus einem dunklen Brunnen, der übergelaufen war. Jana war ganz verwundert darüber, dass so viel Traurigkeit Platz in ihr hatte.
Aber in diese Traurigkeit mischte sich noch etwas anderes: ohnmächtiger Zorn, der immer größer und schwärzer wurde, je länger sie weinte. Sie war wütend auf Alex, wütend auf Nieve und Corvino, wütend auf David – und natürlich auf sich selbst. Sie war so wütend, dass sie am liebsten die Möbel kurz und klein geschlagen, die zarten Vasen an die Wand geschmettert, das Fenster weit aufgerissen und der Welt alle möglichen Beleidigungen ins Gesicht geschrien hätte.
Aber sogar schon während sie solche Fantasien hatte, wusste sie, dass das nicht ging. Eine Agmar-Prinzessin ließ sich niemals von ihren Gefühlen hinreißen. Wenn ihre Mutter ihr etwas beigebracht hatte, dann das: sich unter Kontrolle zu haben. Was hätte sie schließlich davon, wenn sie ihrer Wut freien Lauf ließ? Sie würde nur Corvino und Nieve aufschrecken und vielleicht auch ihre Position gegenüber Argo schwächen, wenn dieser davon erfuhr.
Es war ungerecht. Sie konnte nie Dampf ablassen, so wie die meisten Menschen. »Eine Agmar-Prinzessin darf unter keinen Umständen Schwäche zeigen.« Sie hatte diesen ganzen Mist satt, aber es war, als gehöre er zu einem Verhaltenskodex, der in ihr Unbewusstes eingeprägt war. Dagegen kam sie nicht an. Selbst wenn sie wollte, konnte sie nicht all das über Bord werfen. Oder doch?
Sie knipste die Nachttischlampe an und fast sofort fiel
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