Illusion - das Zeichen der Nacht
neben ihm ins Bett legen, ihn im Schlaf überraschen. Er würde gar keine Gelegenheit haben, sie anzufauchen. Bevor er auch nur reagieren könnte, würden ihre Lippen ihn an die unsichtbaren Mächte erinnern, die sie miteinander verbanden …
Sie ging weiter und verfluchte sich insgeheim für ihre Feigheit, aber sie fühlte sich zu verletzlich, um einen neuen Streit mit Alex zu riskieren. Nach all der Anspannung der letzten Tage hätte sie seine Zurückweisung nicht ertragen. Aber genauso wenig ertrug sie die Vorstellung abzuwarten, bis Alex ihr vielleicht nicht mehr böse war und sich mit ihr versöhnen wollte.
Verstimmt machte Jana den Schrank auf, suchte eine Jeans und einen schwarzen Rollkragenpulli aus und zog sich an. Sie war zerstreut, so in Gedanken versunken, dass sie erst, als sie sich die Schuhe zuband, merkte, dass sie zwei verschiedenfarbige Strümpfe anhatte. Vielleicht um sich mit dieser sichtbaren Nachlässigkeit selbst zu bestrafen, beließ sie es dabei. Sie riss ihre riesige Wildledertasche vom Garderobenhaken, griff sich eine Jacke und ging wieder in den Flur, diesmal zum Ausgang, und zwar ohne das dumpfe Geräusch ihrer Absätze auf dem Teppich dämpfen zu wollen.
Als sie die Tür der Suite aufmachte, zögerte sie einen Moment. Die elektronische Schlüsselkarte des Hotels steckte in dem Schlitz an der Wand neben dem Lichtschalter. Wenn sie sie mitnahm, konnte Alex kein Licht machen, wenn er aufstand, nicht einmal im Bad. Mit einem Seufzer ließ sie die Karte, wo sie war, und zog so leise wie möglich die Tür hinter sich zu.
Minuten später, als sie die Eingangshalle des Hotels durchquerte, begegnete sie dem freundlichen, arglosen Lächeln des Nachtportiers. Ihr fiel ein, dass er ihr vielleicht eine zweite Karte geben konnte, also ging sie direkt zu ihm und trug ihr Anliegen vor.
Das Lächeln des Nachtportiers wurde breiter, während er ihr zuhörte, und er bat sie in einem Italienisch mit starkem venezianischem Akzent, kurz zu warten. Jana beobachtete, wie er hinter einer kleinen bogenförmigen Tür verschwand, die zu den Büros führte, und stellte sich auf längeres Warten ein. Der junge Mann machte zwar einen netten Eindruck, aber er bewegte sich so träge, dass es nicht so aussah, als ob er irgendetwas schnell erledigen könnte.
Zu ihrer Überraschung war der Venezianer jedoch gleich wieder da und hielt ihr eine weiße Papphülle mit dem Cimarosa-Logo hin. »Hier haben Sie eine zweite Karte, Signorina. Frühstück gibt es aber erst in einer halben Stunde«, fügte er noch hinzu.
»Kein Problem«, erwiderte Jana lächelnd. »Ich mache noch einen kleinen Spaziergang.«
Draußen am Kanal schimmerte das Wasser grün vor lauter Algen und die Schatten der Fassaden schwebten darüber wie dunkle Krallen. Die Haltestelle des Vaporetto befand sich zwei Querstraßen weiter, auf der anderen Seite einer Brücke mit verwitterten Steinlöwen an beiden Enden. Jana erreichte die Brücke genau in dem Moment, als das Vaporetto der Linie fünf das Anlegemanöver durchführte. Sie lief schneller, denn es wartete nur noch eine andere Person. Bestimmt würde das Schiff sofort weiterfahren.
Nachdem sie ihre Wochenkarte in den Fahrscheinentwerter hatte gleiten lassen, setzte sie sich hinten aufs Deck und schloss die Augen, genoss die salzige Luft der Lagune, die ihr über die Wangen strich. Der dumpf brummende Motor ließ das Schiff vibrieren, was ein leichtes Kribbeln an ihrem Rücken auslöste. Die anderen Fahrgäste, ein halbes Dutzend junge Venezianer, die zur Arbeit fuhren, lasen die Zeitung oder blickten mit schläfrigen Augen zum Ufer, weshalb es ihr leichtfiel, sie zu ignorieren. Die Schiffsbewegungen erinnerten an das rhythmische Schaukeln einer Wiege und benebelten unweigerlich die Sinne. Jana hatte Mühe, die Lider zu heben, als sie merkte, dass das Vaporetto in einen Kanal mit tieferem und bewegterem Wasser einbog. Der Canal Grande … Als das Schiff an der nächsten Haltestelle, der Rialtobrücke, anlegte, stand sie auf.
Sie sprang an Land, doch selbst auf den massiven Holzplanken, die die Anlegestelle mit dem Gehweg verbanden, hatte sie noch das Gefühl, der Boden unter ihren Füßen bewege sich. Ihr war ein bisschen schlecht und sie begriff, dass sie nicht mit leerem Magen weitergehen konnte.
Fünfzig Meter weiter leuchtete die gestreifte Markise eines Cafés. Der Kellner stellte gerade die Tische und Stühle vors Lokal. Jana ging schnurstracks darauf zu, ließ sich auf einen der Holzstühle
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