Illusion - das Zeichen der Nacht
gesehen?«
Genau wie sie befürchtet hatte, antwortete Alex nicht. Er starrte sie nur an, mit einer Miene, die sich zunehmend verfinsterte.
Janas Wangen begannen zu brennen. Das kam praktisch einem Geständnis gleich. Sie musste unbedingt versuchen, eine plausible Erklärung zu finden. »Die Visionen haben eine symbolische Bedeutung«, begann sie, aber sie merkte selbst, dass ihr Ton wie eine Entschuldigung klang. »Ich hoffe, das verstehst du auch so, wenn du das Gleiche gesehen hast wie ich.«
»Ach ja?« Alex schien nicht bereit, ihr die Sache leichter zu machen. »Inwiefern?«
»Also, vielleicht … wünscht sich ein Teil von mir, dass Erik zurückkommt, um den Medu-Klanen wieder den Stellenwert zu geben, der ihnen eigentlich zusteht«, erwiderte Jana vorsichtig. »Vielleicht hat die Geschichte mit dem Buch mir Hoffnung gemacht.«
»Du lügst.« Alex formte die Worte nur, anstatt sie laut auszusprechen.
Und dann, ohne sich um Janas gekränkte Miene zu kümmern, sprang er auf, drehte sich um und ging hinaus. Hinter ihm fiel die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss. Jana hörte mit rasend klopfendem Herzen abgehackte Schritte, die sich entfernten, die Eingangstür zur Suite, die geöffnet und gleich darauf mit einem leichten Knarren wieder zugezogen wurde. Kurze Stille – draußen im Flur dämpfte der Teppich alle Geräusche –, irgendwann das akustische Signal des Aufzugs, als er ankam und die Tür aufging. Dann wollte Jana nicht mehr weiter lauschen. Alex war gegangen, wohin, war jetzt auch egal. Er war nur gegangen, um nicht bei ihr zu sein, denn er konnte die Wahrheit nicht ertragen, die in der Vision gerade ans Licht gekommen war: dass Jana sich zu Erik hingezogen fühlte. Dass sie sich danach sehnte, Erik möge aus seinem dunklen Traum erwachen, der so sehr dem Tod glich.
—
Jana zog die alte Armbanduhr ihrer Mutter, die sie nachts immer unter das Kopfkissen legte, hervor. Die phosphoreszierenden Zeiger standen auf Viertel vor sieben. Sie seufzte. Zwischen den angelehnten Fensterläden drang trübes Licht herein, das einen blassen blaugrünen Widerschein an die Wände warf. Vom Bett aus sah Jana die Minibar mit dem kleinen Flachbildfernseher darauf und auch eine Ecke des weißen Frisiertischs, der mit zarten Blüten an goldenen Stielen bemalt war.
Ohne groß zu überlegen, setzte sie sich auf, schlug die Decke zurück und angelte mit den Füßen nach ihren Plüschhausschuhen. Sie ging im Dunkeln durch den Flur, der ins Bad führte, in der Befürchtung, Alex habe vielleicht die Tür zu seinem Zimmer nicht ganz zugemacht und das Licht könne ihn stören. Aber Alex’ Tür war geschlossen. Offensichtlich wollte er allein sein und hatte nicht das geringste Bedürfnis nach Gesellschaft.
Jana hatte ihn gegen fünf Uhr morgens zurückkommen hören, er musste also noch tief und fest schlafen. Sie hatte keine Ahnung, wo er bis dahin gewesen sein konnte, aber natürlich hatte sie mehrere Theorien, alle ziemlich beunruhigend. Er konnte sich auf die Suche nach Yadia gemacht haben, um ihn zur Rede zu stellen. Oder er war ins Theater zurückgekehrt, um unter vier Augen mit dem Mann zu sprechen, der sich Armand nannte. Aber höchstwahrscheinlich war er nur ziellos durch die Straßen gewandert und hatte versucht, sich wieder zu beruhigen. Jana kannte Alex gut genug, um zu wissen, dass er dazu mindestens zwei Stunden gebraucht hatte. Er war nach der Vision sehr aufgewühlt gewesen, auch wenn man ihm das nicht unbedingt angesehen hatte. Diese stechende Kälte in seinen Augen, dieser Schatten, der sich in sein Gesicht geschlichen zu haben schien … Jana schüttelte sich, als sie daran dachte.
Es war sehr ungeschickt von ihr gewesen, die Sache herunterspielen zu wollen, als wäre Alex ein kleiner Junge, den man leicht hinters Licht führen konnte. Beide wussten, dass die Szene in der heiligen Höhle, die Jana heraufbeschworen hatte, von höchster Bedeutung für ihre Zukunft war, auch wenn Jana sie noch nicht recht einordnen konnte.
Nach einer kurzen lauwarmen Dusche – sie wohnten zwar in einem Luxushotel, aber das Wasser war nie so heiß, wie Jana es am liebsten hatte – trocknete sie sich rasch ab und ging in dem weißen Morgenmantel mit dem goldenen Cimarosa-Logo in ihr Zimmer zurück. Als sie an Alex’ Tür vorbeikam, blieb sie stehen und lauschte. Sie glaubte, das rhythmische Geräusch seines Atems wahrzunehmen, aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Sie würde ins Zimmer schlüpfen und sich
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