Illusion - das Zeichen der Nacht
fallen und beantwortete die zuvorkommende Geste des Kellners, der auf die aufgeschlagene Speisekarte deutete, nur mit einem Nicken.
Kurz darauf hatte sie einen dampfenden Cappuccino und zwei ofenfrische Miottini vor sich stehen. Jana biss mit Wonne in eins der süßen Stückchen. Sie schloss die Augen, um den Geschmack nach Mandeln und Mais besser auszukosten, und einige Minuten lang konnte sie ihr frühes Frühstück in vollen Zügen genießen, ohne an etwas anderes zu denken.
Aber mit einem Mal, während sie mit dem Silberlöffel den Cappuccino umrührte, stand ihr Nieves Bild vor Augen, wie sie sie böse und mit verzerrter Miene anstarrte – bei ihrer letzten Begegnung, nach der Sache mit Argo. Schlagartig wurde Jana bewusst, dass sie, von dem Moment an, in dem sie das Hotel verlassen hatte, eigentlich zum Palast der Wächter unterwegs war und es sich bisher nur nicht hatte eingestehen wollen.
Verwirrt biss sie sich auf die Unterlippe. Nieves und Corvinos Domizil befand sich auf dieser Seite des Canal Grande, keine hundert Meter von dem Café entfernt, das sie sich zum Frühstücken ausgesucht hatte. Sie versuchte nicht einmal, sich einzureden, dass das Zufall war, denn das stimmte einfach nicht.
Es dauerte noch eine Viertelstunde, bis sie das Café verließ, aber in Gedanken war sie schon fort. Als der Kellner zum Kassieren kam, fiel sein Blick auf ihren Teller, auf dem das zweite Miottino noch unberührt lag, und wanderte dann mit verständnisloser Miene weiter zu Jana. Unter anderen Umständen hätte Jana ihn mit einem Lächeln und einer lobenden Bemerkung über die Qualität des Gebäcks beruhigt, aber diesmal registrierte sie nicht einmal die Reaktion des guten Mannes.
Als sie aufstand, trugen ihre Schritte sie direkt zum Palast der Wächter. Sie blieb vor dem Eingang stehen und einen Moment lang hatte sie die Befürchtung, jeden Moment könne die Tür aufgehen und sie müsse Nieve direkt ins Gesicht sehen. Sie überlegte sogar, sich in einem nahen Portal zu verstecken und den Eingang von dort zu beobachten, verwarf die Idee jedoch sofort.
Eigentlich wusste sie gar nicht recht, was sie hier wollte. Ihr Blick schweifte über die elegante Steinfassade und richtete sich nacheinander auf die einzelnen Fenster. Bei fast allen waren die Läden geschlossen, nur im Erdgeschoss, dort wo die große Bibliothek war, standen zwei Fenster offen. Die Brise blähte die weißen Musselingardinen auf und ließ die zarten Spitzenbordüren tanzen.
Auf einmal sah Jana hinter diesen Vorhängen eine weibliche Silhouette. Sie hielt die Luft an. Das war Nieve, ganz sicher. Plötzlich verspürte sie den Impuls, an der Tür des Palasts zu klingeln und ihr alles zu erzählen. Nieve wusste von der Existenz des Buchs, genau wie die anderen Wächter, und bestimmt auch, wo sich die von den Kurilen angefertigte Kopie befand, falls es die wirklich gab.
Je länger Jana darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Idee, Nieve alles anzuvertrauen. Sie würde ihr von Armand erzählen, von dem Video, in dem der angebliche Magier aus seiner eigenen Asche auferstand, und was Alex ihr über die verkohlte Leiche in Vicenza erzählt hatte. Vielleicht fand Nieve für diesen ganzen Wirrwarr eine logische Erklärung. Vielleicht war sie in der Lage, die Teile des Puzzles, das Jana so viel Kopfzerbrechen bereitete, richtig zusammensetzen.
Sie machte ein paar halbherzige Schritte auf die Tür des Palasts zu, blieb dann jedoch stehen und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Wenn sie mit Nieve über das Buch redete, würde Alex wütend werden. Das musste sie vorher mit ihm besprechen. Sie würde sich zumindest seine Argumente anhören müssen, auch wenn sie sie nachher in den Wind schlug.
Langsam drehte sie sich um und machte sich auf den Rückweg ins Hotel. Sie war so zerstreut, dass sie die falsche Richtung einschlug und in einer ausgestorbenen Ecke der Stadt landete, die ihr völlig fremd war; einer Gegend, wo die Bodenplatten zerborsten waren, weil die Pflanzen darunter sich mit aller Macht einen Weg ans Licht gebahnt hatten, und wo die Steinwände der alten Gebäude mit dem Smaragdgrün von Moos und dem Rostrot von Flechten überzogen waren. Ein heruntergekommener, trister Platz, umringt von dunklen Palazzi, an denen die Feuchtigkeit nagte, altersschwach und mitleiderregend wie alte Menschen, die nur noch auf den Tod warten.
Mit einem seltsamen Druck auf der Brust machte Jana kehrt und lief, ohne nach rechts und links zu sehen, über das
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