Illusion - das Zeichen der Nacht
den Kopf in diese Richtung.
Ein Mann. Oder zumindest sah er so aus. Er stand da, den Rücken leicht gekrümmt und das Gesicht dem Spiegel zugewandt, reglos wie eine Statue.
Aber das da war keine Statue. Seine Haut sah aus wie bei einem Menschen und war von oben bis unten mit Tattoos bedeckt, sogar die kahle Kopfhaut. Dieser Körper wirkte eher, als wäre er ausgestopft – auch wenn Alex sofort wusste, dass das nicht der Fall war.
»Was ist das?«, fragte er mit dünner Stimme.
Die Antwort ließ einige Sekunden auf sich warten und nicht Armand lieferte sie, sondern David. »Das … das ist ein Nosferatu«, flüsterte er.
Alex wandte sich ihm zu. Im Zwielicht konnte er kaum den Ausdruck seiner Augen erkennen. »Ich verstehe nicht. Was ist ein Nosferatu?«
»Ein Nosferatu ist ein Untoter.« David konnte den Blick nicht von dem unheimlichen Wesen lösen. »Ein Leichnam, der an der Schwelle zwischen Leben und Tod verharrt.«
Armand war in der Nähe der Tür stehen geblieben. »Eigentlich sollten wir nicht von einem Nosferatu sprechen, sondern von dem Nosferatu. Dieses Exemplar hier ist das einzige, das es noch gibt.«
»Ich verstehe immer noch nicht«, sagte Alex. »Was hat das hier mit dem Buch zu tun?«
»Überleg doch mal!« In dem grauen Zwielicht funkelten Davids Pupillen wie schwarze Sterne. »Das hier ist das Buch. Eine geniale Idee! Ich wäre nie darauf gekommen, aber jetzt wird mir klar, dass es gar nicht anders gegangen wäre.«
»David, hör auf, in Rätseln zu sprechen. Ich habe keine Ahnung, was du eigentlich sagen willst. Das Buch der Schöpfung ist … ein Leichnam?«
David räusperte sich, ehe er antwortete. »Zu Dajedis Zeit glaubten die Philosophen, der Mensch sei ein Mikrokosmos, eine Art verkleinertes Abbild des Universums. Und das Buch der Schöpfung soll ja auf seine Weise eine genaue Beschreibung des Universums enthalten. Was ist also der beste Träger für eine Kopie des Buchs? Ein Mensch. Eine Kopie der Welt, die auf eine andere Kopie der Welt geschrieben ist. Beide mächtig, unermesslich, unendlich. Besser geht’s nicht.«
Armand applaudierte schallend. »Hervorragend!«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Du hast es sofort begriffen, David. Aber du vergisst eins. Damit ein Mensch ein Mikrokosmos ist, damit er das komplette Abbild der Welt in sich tragen kann, ist es nicht mit seinem Körper getan. Er braucht auch eine unsterbliche Seele.«
Als Alex wieder zu der reglos wirkenden Gestalt hinüberblickte, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Er hätte schwören können, dass das Wesen sich gerade ein paar Zentimeter zur Seite gedreht hatte, um ihn im Blick zu haben. Dabei waren die Augen in diesem Leichengesicht voller Tattoos tief in den dunklen Höhlen versunken.
»Du hast recht.« Vor Aufregung versagte Davids Stimme. »Du hast recht, der tätowierte Körper ist nicht wirklich das Buch, er ist nur … Wie soll ich sagen? Der Einband, stimmt das, Armand?«
»So ist es, David. Er ist nur der Einband. Interessant, aber unvollständig.«
»Das heißt, damit man das Buch lesen kann, muss der Nosferatu wiederbelebt werden. Man muss ihm eine Seele geben … Aber wie macht man das?«
Aus Davids Miene war jegliche Skepsis verschwunden. In diesem Moment sah er den Zauberkünstler an, als hätte er eine Art Orakel vor sich.
Alex blickte mit einem unbehaglichen Gefühl zur Seite. Er traute Armand nach wie vor nicht. Außerdem konnte er sich nicht recht auf den pergamentartigen Körper des ›Untoten‹ konzentrieren – im Raum war noch etwas anderes, das seine Aufmerksamkeit mit aller Macht auf sich zog und ihn daran hinderte, einen klaren Gedanken zu fassen: der Spiegel oder vielmehr der Schatten, der darin lauerte. Er war genauso dicht und undurchdringlich wie der Schatten in seinen letzten Visionen, die alle mit dem Buch zu tun gehabt hatten. Nur war der Schatten da nicht aus einem Spiegel gekommen, sondern von ihm selbst, von seinem eigenen Körper. Oder womöglich von etwas, das viel untergründiger und nicht so recht greifbar war, nämlich von seiner Seele …
Einige energische Schritte auf dem Mosaikboden rissen Alex aus seinen Gedanken und holten ihn in die Wirklichkeit zurück.
Der Magier war zur Tür der Geheimkammer gegangen und beobachtete seine beiden Gäste von dort aus mit amüsierter Miene.
»Komm schon, Armand, du musst es doch wissen«, beharrte David in fast flehendem Ton. »Du hast das Buch gelesen; alles, was du besitzt, hast du nur ihm zu verdanken. Das
Weitere Kostenlose Bücher