Im Abgrund der Ewigkeit
Tasten. Sie warf kurz einen Blick auf das entstandene Diagramm, klickte es weg und gab neue Daten ein. „Der Entzug von Lilith ist zwar schwierig, aber ich habe alles im Griff.“ Frau Dr. Naumann verstummte. Sie betrachtete den Monitor. „…dachte ich zumindest“, fügte sie hinzu.
Die Ärztin arbeitete konzentriert weiter. „Das hängt nicht mit dem Entzug zusammen. Die Werte von Johannes und Lilith haben sich gleichzeitig dramatisch verändert.“
„Dramatisch?“, fragte Asmodeo.
Die Ärztin hielt einen Moment in ihrer Arbeit inne und biss sich kurz auf die Lippen. „Irgendetwas geht hier vor. Die beiden halten diese Belastung nicht mehr lange aus. Wenn mir nicht schnell etwas einfällt, dann…“ Die Ärztin gab sich einen Ruck und wandte sich wieder den technischen Geräten zu, „…dann kann ich nichts mehr für sie tun.“
Asmodeo hatte die letzten Worte schon nicht mehr gehört. Er war aus der Klinik gestürmt und rannte über den Klosterhof. Im Innern der Kirche erwarteten ihn die zeitlose dunkle Kühle sowie der leichte Geruch von brennendem Wachs und Weihrauch. Die Sonne fiel schräg durch die schmalen bunten Glasfenster. Sie erleuchteten das Bild von St. Georg, dem Ritter, der mit einem feuerspeienden Drachen kämpfte.
Mittlerweile kannte Asmodeo fast jede Unebenheit der steinernen Wendeltreppe. In Windeseile hatte er sie hinter sich gebracht. Er zwängte sich durch den engen Spalt und verharrte schwer atmend vor dem einzigen noch funktionierenden Bild im Bernsteinzimmer. Seine Hände zitterten, als er die Kerze anzündete. Er zwang sich zur Ruhe und wartete, bis der Docht Feuer gefangen hatte.
Die Leinwand zeigte eine weiße hügelige Fläche. Zwei dunkle Punkte erschienen, die sich in einem beständigen Tempo vorwärts bewegten. Asmodeo konzentrierte sich darauf und bald sah er Lilith und Johannes, wie sie auf zwei Pferden durch die eisige Winterlandschaft ritten.
Johannes zügelte sein Pferd. Seine Augen suchten den Horizont ab. Eine schmutzigbraune Flut strömte über einen der Hügel. Asmodeo vermochte die Ratten zu erkennen, dazwischen die zerlumpten Gestalten ihrer Diener. Dann erschien eine große brennende Figur, die mit riesigen Schritten den Abhang hinunterhetzte. Flammen schlugen aus ihr. Asmodeo meinte, ihr infernalisches Geschrei zu hören, wie es über die Ebene schallte.
Asmodeo schwankte und strich sich nervös über die Stirn. Dann ließ er sich schwer in den Sessel fallen und bedeckte sekundenlang die Augen mit seinen Händen.
„Baal“, flüsterte er. „Wer hat dich aus der Hölle gelassen?“
2
A ls Asmodeo seinen Blick erneut auf das Gemälde heftete, bogen Lilith und Johannes gerade in die Hauptstraße von Snowhill ein. Sie hatten sich tief über die Hälse ihrer Tiere gebeugt und jagten wie der Wind dahin. Ihre Verfolger waren ihnen hart auf den Fersen: Die zahllosen Ratten, die Männer in den langen Mänteln, ihre Augen von den grotesken Brillen verborgen, und in ihrer Mitte, riesig und furchteinflößend, Baal – eine Armee des Todes.
Nach kurzem Zögern ritten Johannes und Lilith in die Herberge. Asmodeo vermochte nicht zu erkennen, was sie darin taten, er sah nur, wie sie auf der Rückseite herauskamen. Sie waren abgestiegen, Lilith bemühte sich, die panischen Pferde zu bändigen, während Johannes den Hinterausgang mit einem Balken versperrte.
Ein Geräusch ließ Asmodeo herumfahren. Zwei Mönche erschienen in der Bernsteingrotte. Sie hatten sich seitlich durch den Felsspalt geschoben. In ihrer Mitte befand sich der Abt, der sich kaum auf den Beinen halten konnte und den sie jetzt hochhoben, um ihn gemeinsam in den Saal zu tragen.
Asmodeo sprang auf und machte den Sessel für den Abt frei. Die Mönche setzten ihn behutsam ab. Dennoch entwich dem Abt ein langgezogenes Stöhnen.
Asmodeo biss sich kurz auf die Lippen, wies auf das Bild und sagte gepresst. „Baal ist hinter ihnen her.“
„Kann ich sehen“, erwiderte der Abt, der noch nach Atem rang.
„Du hättest nicht herkommen sollen“, fuhr Asmodeo fort. „Du bist todkrank. Du musst dich schonen. Und außerdem hast du jetzt die Existenz dieses Raumes an deine Leute verraten.“
Der Abt hustete, wischte sich reflexartig über die Lippen und antwortete: „Den Raum kennen alle meine Mönche. Also reg‘ dich ab.“
Auf der Leinwand stürmte Baal in die Herberge. Ein Licht erstrahlte im Innern und dann schien das Bild nur noch aus einer einzigen Explosion zu bestehen, die beinahe
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