Im Auftrag der Liebe
Akten, die muss ich noch abarbeiten.«
Genau in dem Moment, in dem meine Fingerknöchel das Holz berührten, wandte er sich mit einer Drehung des Bürostuhls vom Fenster ab. Er spannte jeden Nerv an, als unsere Blicke sich trafen.
Wow!
Ich lehnte mich an den Türrahmen, falls meine Knie nachgeben sollten.
»Cara, ich muss Schluss machen, hier will mich jemand sprechen.« Er presste die Lippen aufeinander. »Ich rufe dich noch mal an, bevor ich mich auf den Weg mache. Ciao.«
Er klappte sein Handy zu und stand auf. Ich hatte nicht den Eindruck, meinen wackeligen Knien trauen zu können, daher rührte ich mich nicht vom Fleck.
Sean war nicht gut aussehend im klassischen Sinne. Seine Gesichtszüge waren zu kantig, die Haare zu kurz, und er hatte sich mindestens einmal die Nase gebrochen, vielleicht sogar öfter. Sein Kiefer schien einem Superheldencomic zu entstammen. Aber irgendetwas an ihm verschlug mir völlig den Atem und ließ meine Knie butterweich werden. Irgendetwas … soll ich es wirklich aussprechen? Sinnliches. Verführerisches.
Jetzt war mir auch klar, warum Suzannah vorhin so gelächelt hatte.
Auf diese Art und Weise hatte ich noch nie auf einen Mann reagiert, und ich war mir nicht ganz sicher, wie ich das interpretieren sollte. In diesem Moment passte es mir so gar nicht – ich war mir ziemlich sicher, dass ich wie ein Idiot dastand.
Er wich meinem Blick nicht aus, sah nicht weg oder blinzelte. In den achtundzwanzig langen Jahren meines Lebens hatte ich noch nie so graue Augen gesehen. Die milchige Iris schimmerte wie Perlen. Ich war wie gebannt und brauchte fast eine halbe Minute, um mich zusammenzureißen.
Schließlich räusperte ich mich und sagte: »Hi.«
»Sie können ja doch sprechen. So langsam hatte ich da meine Zweifel.«
Auf einmal glühten meine Wangen. Ich hatte ihn offensichtlich nicht sehr beeindruckt.
»Ich hab geklopft und gerufen. Sie haben mich wohl nicht gehört.«
Versuchsweise machte ich einen Schritt. Meine Beine trugen mich, also trat ich ins Zimmer. »Ich bin Lucy Valentine. Oscars Tochter.«
Sein Gesichtsausdruck wechselte von misstrauisch zu … erfreut? Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er keine Ahnung gehabt hatte, wer ich war – es hätte genauso gut irgendeine Verrückte von der Straße sein können, die da plötzlich in seinem Büro stand.
»Tut mir leid, ich habe Sie wirklich nicht gehört.« Er streckte die Hand aus. »Sean Donahue.«
Ich starrte sie an.
O nein.
»Ich habe keine Läuse, Ms Valentine.«
Ich klemmte mir das Aktenbündel unter den rechten Arm, nahm all meinen Mut zusammen und antwortete: »Nein, natürlich nicht. Und nennen Sie mich doch bitte Lucy.« Über den Schreibtisch hinweg griff ich nach seiner Hand und schüttelte sie hastig. Um mich herum drehte sich alles, das Zimmer rotierte plötzlich. Aber es war nicht das Gefühl des wild gewordenen Filmprojektors, an das ich gewöhnt war. Es war mehr wie ein Daumenkino in Zeitlupe. Die Bilder tauchten ganz gemächlich auf, Seite um Seite. Und trotzdem ergab das, was ich da sah, keinen Sinn. Es waren Momentaufnahmen, verschwommen und unscharf …
Bis auf die eine. Mit einem Ruck machte ich mich los.
Er fixierte seine Hand so lange, dass ich mich schon fragte, ob er vielleicht auch etwas gespürt oder gesehen hatte. Aber nein, das war unmöglich.
Ich wusste nicht, was ich mit diesem Zeitlupengefühl anfangen sollte. Das war neu. Und ich wusste erst recht nicht, was das eine klare Bild in meiner Vision zu bedeuten hatte. Denn es zeigte eindeutig keinen verlorenen Gegenstand.
Ich beschloss, mir später den Kopf darüber zu zerbrechen, und ließ mich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Wir blickten einander etwa zehn Sekunden lang an. Und erstaunlicherweise war das überhaupt nicht komisch. Es war eher so, als würde man einen alten Freund wiedersehen. Was überhaupt keinen Sinn ergab, weil ich ihn noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Solche Augen hätte ich doch niemals vergessen.
Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln. Ich hasste es, Raphael warten zu lassen, und wenn ich weiter Sean Donahue anschmachten würde, dann käme ich hier nie weg.
»Ich, äh, brauche Ihre Hilfe.«
»Okay.«
»Wegen eines Kunden.«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Dann erzählen Sie mal.«
»Ich muss eine junge Frau finden.« Ich legte die Mappen auf meinen Schoß. Es gab zwei Gründe dafür, dass ich Jennifer Thompson ausfindig machen wollte. Zunächst einmal wollte ich
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