Im Auftrag der Liebe
selbst besser als ich, Lucy.«
Ich wünschte nur, das würde stimmen. Wenn es um meine Fähigkeiten ging, wusste ich in Wirklichkeit äußerst wenig über mich. Nach dem elektrischen Schlag hatte ich zunächst gedacht, dass mir meine übersinnlichen Fähigkeiten abhandengekommen waren. Mit, na ja, mit einem Schlag waren die bunten Auren verschwunden, die ich vorher bei meinen Mitmenschen gesehen hatte. Ich erkannte nur durch Zufall, dass ich verschwundene Gegenstände aufspüren konnte, als Raphael einmal seine Brieftasche verlegt hatte. Meine Familie bestand auf Geheimhaltung, also stand es außer Frage, meine Fähigkeit wissenschaftlich erforschen zu lassen. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ich alles konnte.
Ich hätte mich so gerne bei jemandem ausgeheult, aber ich konnte mit niemandem darüber sprechen, wie es mir erging. Nur Mum, Dad, Dovie und Raphael wussten von meiner Begabung. Und was ein Gespräch mit meiner Mutter brachte, wurde ja gerade ziemlich deutlich. Ich kam mir immer noch genauso verloren vor wie in dem Augenblick, als ich das Büro verlassen hatte.
In solchen Momenten wünschte ich mir, dass mehr Menschen etwas über meine Fähigkeiten wüssten. Meine Freundinnen. Suz. Irgendjemand, der mir dabei helfen konnte, mein verwirrendes Leben auf die Reihe zu bekommen.
»Aber hältst du das denn für möglich?« Mir wurde klar, dass ich vor Kälte mit den Zähnen klapperte, und ich hielt auf die Kabinentür zu.
»Lucy, ich halte inzwischen so ziemlich alles für möglich.«
»Aber was soll ich denn jetzt damit anfangen?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte lange Schweigen, und ich fürchtete schon, die Verbindung sei unterbrochen worden. »Mum?«
»Ich bin noch dran. Ich glaube, diese Frage kannst nur du selbst beantworten.«
Der Gedanke löste zwar Panik bei mir aus, aber ich befürchtete, dass sie Recht hatte.
»Wir steigen gleich ein, Lucy. Ich weiß nicht so genau, wie auf der Insel der Empfang sein wird, also kann es sein, dass du eine Zeit lang nichts von uns hörst. Ich melde mich, sobald ich kann.«
Ich war nicht gerade zufrieden, als ich das Handy ausschaltete. Wegen dieser seltsamen Vision. Und wegen meiner Eltern.
Gestresst trat ich ins Innere der Fähre und beschloss, dass es im Moment vermutlich das Beste war, über diese Vision nicht weiter nachzudenken. Was aber leichter gesagt war als getan.
Als ich am Hingham Shipyard endlich mein Auto gefunden und die Heizung angestellt hatte, war in mir längst der Entschluss gereift, die Vision von Sean und mir völlig zu verdrängen.
Ich würde einfach so tun, als wäre es nie passiert, und das war’s dann. Sonst würde ich mich mit all den Was-wäre-wenns ja doch nur verrückt machen.
Statt nach links auf die 3A abzubiegen und mich auf den Weg nach Hause zu machen, bog ich nach rechts ab. Wenn ich so tun sollte, als ob ich das Bild von Sean und mir nie vor meinem inneren Auge gesehen hätte, dann brauchte ich ein wenig Ablenkung.
Und die konnte mir Michael Lafferty mit seinem verschwundenen Diamantring bieten.
Ein paar Meilen weiter nördlich fuhr ich auf den Parkplatz bei einem Dunkin’ Donuts und stellte den Motor ab. Ich kämpfte gegen das Verlangen an, mir einen Spritzkuchen und einen Kürbis-Latte-macchiato zum Mitnehmen zu holen.
Ich machte das Radio aus und stellte den Sitz nach hinten. Die Heizung wärmte mir Hände, Füße und Gesicht.
Dann schloss ich die Augen, atmete tief ein und dann wieder aus. Ich erlaubte mir, mich so weit zu entspannen, dass mich die Vision des Ringes abermals überkam, und versuchte, die Bilder zu verlangsamen. Vom ersten Mal wusste ich schon, dass er sich nicht weit weg von der Stelle befand, an der ich jetzt geparkt hatte. Von diesem Punkt aus brauchte ich allerdings genauere Hinweise.
Ein Schwindelgefühl wirbelte meine Gedanken durcheinander. Alles drehte sich im Kreis, ich kämpfte gegen die Benommenheit an und bemühte mich, Straßennamen oder landschaftliche Auffälligkeiten auszumachen. An der Kreuzung links, dann links in eine Seitenstraße abbiegen, durch ein Eingangstor auf einen Parkplatz, dann einen gepflasterten Fußweg entlang, eine steinerne Treppe hinauf, durch ein dichtes Wäldchen …
An diesem Punkt hielt ich es nicht länger aus und setzte mich auf, nach wie vor benommen. Mein Magen rebellierte, ich schaltete die Heizung aus und öffnete das Fenster. Kalte Luft drang herein, und ich atmete sie tief ein. Die Vision hatte sich beim zweiten Mal nicht
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