Im Auftrag der Liebe
leid.«
»Danke. Kaffee? Tee?«, fragte sie. »Damit Sie ein wenig warm werden?«
»Nein, danke«, lehnten Sean und ich gleichzeitig ab.
Sie ließ sich langsam auf der Couch gegenüber nieder und stützte sich grazil auf dem Rand eines Kissens ab. Ihre gebeugte Haltung und die fahle Haut deuteten auf gesundheitliche Probleme hin, ihr Blick war jedoch klar. Schulterlanges weißes Haar umrahmte wie der Flaum einer Pusteblume ihr Gesicht.
»Dann kannten Sie Rachel also gut?«, fragte Sean.
»Ich war wie eine Tante für sie. Wie gesagt, blutsverwandt waren wir nicht, aber der Liebe sind solche Unterschiede egal.«
Wohl wahr. »Unser Beileid.«
Sie nickte.
»Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll«, sagte ich und spielte nervös mit den Fingern herum. »Wir, Sean und ich, wir haben ihre Leiche gefunden.«
Sie schloss die papierdünnen Lider. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass es wirklich sie ist. Sie ist schon so lange fort. Es ist ein Segen und ein Fluch zugleich. Wie haben Sie sie gefunden?«
Nach und nach berichtete ich ihr von Michael und von dem Ring, der uns zu dem Leichnam geführt hatte. Es war verrückt, so offen über meine Fähigkeiten sprechen zu können.
Marilyn fasste sich an den Kopf. Rund um ihren Mund verzogen sich die Falten zu glatter Haut. »Ich habe schon vor Jahren um sie getrauert. Ich wusste, dass sie nicht zurückkommen würde. Sie war immer schon sehr unabhängig, aber ihre Großmutter war ihr Ein und Alles. Als wir an Weihnachten nichts von ihr hörten, fuhr ich zu ihrer Wohnung und meldete sie dann als vermisst. Die Polizei wollte nie glauben, dass ihr etwas zugestoßen war, aber ich war mir sicher.«
»Weshalb?«
Sie blinzelte zweimal. »In ihrer Wohnung fand ich ihr Medaillon auf dem Fußboden – der Verschluss der Kette war kaputt, als ob sie ihr jemand vom Hals gerissen hätte. Rachel hat dieses Medaillon immer getragen. Es war ein Geschenk, das sie von ihren Eltern bekommen hatte, bevor diese ums Leben kamen. Das hätte sie niemals freiwillig zurückgelassen.«
»Hat die Polizei Anzeichen für einen Kampf gefunden?«, fragte Sean.
»Nein. Es gab keine. Mal abgesehen vom Medaillon. Es gab keinen Beweis dafür, dass ihr etwas zugestoßen war, nichts. Aber ich wusste es …« Ihre Stimme war immer leiser geworden.
»Wie alt war Rachel, als ihre Eltern starben?«, fragte ich.
»Sechs. Ein Autounfall. Von dem Moment an war sie völlig verändert. Trotzig, traurig. Das war zu erwarten gewesen, meinten die Psychiater. Als sie älter wurde, zog sie sich völlig zurück.« Marilyn schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher, was aus ihr geworden wäre, wenn ihre Freundinnen nicht für sie da gewesen wären.«
»Elena?«, fragte ich.
»Und Jennifer«, ergänzte sie.
Zufall? »Jennifer Thompson?«
»Genau. Die ganze Junior High hindurch waren die drei unzertrennlich.«
Ich musste plötzlich an Marisol, Em und mich denken.
»Leider zerbrach die Freundschaft zu Jennifer in der Highschool.«
»Wegen Michael«, ergänzte Sean.
Sie lächelte. »Das war so albern. Jennifer hatte das, was Elena wollte. Über diesen angeblichen ›Verrat‹ ist Elena nie hinweggekommen. Und sie hat sich danach viel zu lange an diese Michael-Besessenheit geklammert. Es gibt nichts Schlimmeres, als auf die beste Freundin eifersüchtig zu sein oder zu glauben, dass man um die große Liebe betrogen wurde. Rachel hat zu Elena gehalten, vor allem, weil sie nicht wollte, dass die auf einmal niemanden mehr hatte.«
Marisol, Em und ich hatten nie zugelassen, dass sich ein Mann zwischen uns stellte. Denn das wäre mit Sicherheit übel ausgegangen.
»Wissen Sie, was mit Jennifer passiert ist?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie hat sich wohl von Michael getrennt, das war das Letzte, was ich von ihr gehört habe. Es war Rachel ziemlich peinlich, welche Rolle sie dabei gespielt hat, und sie hat Michael irgendwann alles gestanden.«
»Wussten Sie von dem schlimmen Streit zwischen Elena und Rachel?«, fragte Sean.
Sie nickte. »Elena ist noch an jenem Abend aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausgezogen.«
»Wie hat Rachel das aufgenommen?«
»Sie war am Boden zerstört.« Marilyn strich sich den eigentlich bereits faltenfreien Rock glatt. »Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen – ich wollte Elena ja mögen. Aber sie war … hart. Sie wurde von einem alleinerziehenden Vater großgezogen, einem Alkoholiker. Bettelarm. Ich konnte ihr nie richtig vertrauen. Diese Augen. Die waren wirklich
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