Im Auftrag der Rache
sie nicht mehr reden konnten. Ihre ausdruckslosen Gesichter waren mit Ruß und Blut beschmiert und nur dort noch halbwegs sauber, wo die Helme die Haut bedeckt hatten. Ihre Augen wirkten blind, so als ob sie die ganze Nacht hindurch in einen Schmelzofen geschaut hätten. Löckchen fühlte sich diesen Kämpfern inzwischen kameradschaftlich verbunden. Gemeinsam hatten sie das Schlimmste durchgestanden. Heute hatte sie herausgefunden, dass sie sich nicht mehr als Zivilistin, sondern als eine von ihnen betrachtete.
Ein viel ordentlicherer Strom von Zivilisten schlug der Armee auf der Brücke entgegen; es waren die Einwohner von Tume, die mitsamt ihren Habseligkeiten aus der Stadt flohen. Sie schauten nervös auf die Soldaten, die ihnen offenbar nicht als Retter, sondern als die Vorboten der Niederlage erschienen. Löckchen wusste nicht zu sagen, ob sie vielleicht Recht hatten.
Sie zog ihren Mantel enger um sich und schützte sich gegen den niedergehenden Schneeregen. Ihre Haare klebten feucht am Schädel, und ihre Ohren brannten vor Kälte. Sie wünschte, sie hätte eine Kapuze. Löckchen wischte sich durch das Gesicht und hielt den Blick starr auf den Rücken des Soldaten vor ihr gerichtet. Der Mann zitterte; er hatte seinen Mantel verloren und hielt die Arme dicht an den Körper gepresst. Sein Atem stieg über der blutigen Bandage auf, die um seinen Schädel gewickelt war.
Weit vor ihm und der Reihe der dahintrottenden Männer stand am Ende der Brücke ein weit offenes Torhaus. Dahinter erstreckte sich Tume nach allen Seiten.
Nur die Zitadelle war auf festem Boden erbaut; ihre Mauern und Türme waren auf einem Felsvorsprung errichtet, der sich hoch über die Dächer der Stadt erhob. Der Rest der Gebäude, die wie die Brücke aus Holz bestanden, stand auf großen Flößen, die Kris zufolge aus festem Seekraut bestanden. Dabei handelte es sich um eine Pflanze, die nur in diesem See vorkam. Sie filterte Mineralien und Nährstoffe aus dem Wasser und hielt es auf diese Weise so sauber wie ein Bergsee. Löckchen konnte bis auf den schlammigen Grund sehen, aus dem Felsen hervorragten, die mit Algen bewachsen waren. In der Nähe der Oberfläche erspähte sie Fischschwärme, die an den Ranken am Rande der schwimmenden Pflanzeninseln knabberten.
Nun wusste sie, warum der See seinen Namen hatte. Hier und da stiegen Blasen auf, besonders am südlichen Ufer, wo die Oberfläche brodelte und Dampf in die kühlere Luft ausstieß.
»Wenn du da hinten ans Ufer gehst«, sagte Kris, als sie Löckchens Interesse bemerkte, »kannst du dir dort ein Loch graben und darauf warten, dass das Wasser hineinfließt. Dann kannst du darin dein Frühstück kochen.«
Löckchen nickte mühsam. Sie fragte sich, wie jemand unter diesen Umständen ans Essen denken konnte, wo die Luft so schrecklich nach faulen Eiern stank.
Vor ihr bemerkte sie, dass einige Soldaten hinüber zum fernen Ostufer schauten. Löckchen konnte nicht erkennen, was sie dort sahen, denn die vielen entgegenkommenden Bewohner der Stadt nahmen ihr die Sicht.
»Hör mal«, sagte Kris, und Löckchen spitzte die Ohren. Über dem Wasser drehte sich der Wind, und nun vernahm sie das leise Knallen von Gewehrfeuer.
»Sie kommen«, sagte Kris.
Auch die Bewohner von Tume hörten es. Ein Murmeln bewegte sich durch ihre Reihen, dann ertönten Alarmrufe. Einige drehten sich um und kehrten zurück in die Sicherheit der Stadt. Andere drängten noch heftiger vorwärts und wollten so schnell wie möglich von hier wegkommen.
Die Armee marschierte indes weiter und dachte nur an einen Unterschlupf und ein warmes Essen.
Kapitel dreißig
Brennende Brücken
Angeblich war die Schildkröte dreihundert Jahre alt – so alt wie die Zitadelle, die während dieser ganzen Zeit ihr Zuhause gewesen war. In ihrem langen und gewichtigen Leben hatte diese Kreatur Hungersnöte und Wohlstand, Krieg und Frieden und sogar Revolutionen erlebt. Ihre Augen hatten gesehen, wie die Herrscherfamilie von Tume alt wurde und in diesen feuchten Steinmauern gestorben war, eine Generation nach der anderen. Sie hatte die blutigen Geburten der Kinder gesehen, die großen Bälle und Bankette, die bitteren Streitereien, die Fehden, die Affären und die tödlichen Krankheiten, bis sie selbst zu einem lebenden Teil der Geschichte und zu einer Verbindung zwischen lange verstorbenen Vorfahren und fernen Abkömmlingen geworden war.
Die Schildkröte schien sich um ihr glanzvolles Erbe kaum zu kümmern. Sie balancierte auf den
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